Radikal-Konstruktivist: Ernst von Glasersfeld ist 93-jährig gestorben

Der österreichisch-amerikanische Forscher wurde noch 2009 in Wien geehrt.

Als Österreicher in München geboren, in Italien und der Schweiz aufgewachsen, hat er in Wien studiert, ist nach Irland und dann in die USA emigriert: Ernst von Glasersfeld war Bürger vieler Welten, wuchs dreisprachig auf. Er habe keine Muttersprache, nur mehrere Muttersprachen, sagte er. „Ich verstand, dass es Dinge gab, die man in der einen Sprache sagen und für wahr halten und die man doch nicht in eine andere Sprache übersetzen konnte.“

So las er Joyces „Finnegans Wake“ gleich nach dem Erscheinen. So arbeitete er später als Computerlinguist für die US-Airforce, als Lerndidaktiker (u.a. über die Entwicklung von Zahlenbegriffen bei Kindern), als Professor für Kognitive Psychologie – und sogar als Primatenforscher: In den Sechzigern brachte er einer Schimpansin die Zeichensprache „Yerkish“ bei, die er selbst entwickelt hatte. Und so lag für ihn der Schritt zum Radikalen Konstruktivismus nahe.

Diese philosophische Richtung hat Glasersfeld gemeinsam mit Heinz von Foerster (1911 bis 2002) begründet, er hat sie auch benannt. Sie beruht auf der Überzeugung, dass niemand über einen unmittelbaren Zugang zur Realität verfügt – die er streng von der Wirklichkeit unterschied. „Auch wenn zwei aus einer Flasche trinken, ist es nicht derselbe Wein“, erklärte er. Radikaler noch: „Wir können die Wahrheiten von anderen nicht umkonstruieren. Wer sagt, es hätte keine Gaskammern gegeben, lügt. Aber es ist seine Wahrheit.“

Bauer in Irland, Skifahrer in Australien

Diese radikal subjektivistische Sicht teile er mit großen Physikern des 20.Jahrhunderts, meinte Glasersfeld: Einen davon, Erwin Schrödinger, lernte er in Irland kennen, wohin er 1938 vor den Nazis geflüchtet war, vor dem „Marschieren der Gestiefelten“, wie er in seinen „Unverbindlichen Erinnerungen“ schrieb. In Irland arbeitete er als Bauer. In Wien hatte er Mathematik studiert – und seinen ersten Artikel geschrieben: für die „Neue Freie Presse“, über seine Erlebnisse als Skilehrer in Australien.

Bis in seine Neunziger fuhr Glasersfeld, Sohn eines Diplomaten und einer Skirennläuferin, Ski in seiner neuen Heimat in Massachusetts. Nach Wien kam er oft, zuletzt 2009, um die Ehrenmedaille der Stadt entgegenzunehmen. Wer ihn in seinem feinen Prager Deutsch aus seinem Leben erzählen gehört hat, wird ihn nicht vergessen. Freitagmittag ist er an Pankreaskrebs gestorben. Sein Freund und Kollege Josef Mitterer (Universität Klagenfurt) wird seinen Nachlass verwalten. tk

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.11.2010)

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