Der Sturm im Kopf von Elfriede Jelinek

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Simons inszeniert an den Münchner Kammerspielen "Winterreise": Er setzt den dichten Text in eine starke Bildsprache um. Das Ensemble ist in der Disharmonie raffiniert eingespielt. Eine lohnende Tour de Force.

Der eiserne Vorhang der Münchner Kammerspiele bleibt geschlossen. Eine abschüssige Vorbühne, die weit ins Parkett reicht, ist aus Holzplanken grob gezimmert. Ganz rechts hinten: eine Orgel, angefügt ein Piano. Dort sitzt der Musiker Jan Czajkowski, eingemummt in einen rotweißen Skianzug und mit schwarzer Haube. Es pfeift der Wind. Sind wir bei „König Lear“ auf der Heide? Werden undankbare Kinder ihren Vater unzivilisiert in die Wildnis treiben? Es sieht ganz danach aus.

In der Mitte der Eisenwand öffnet sich eine kleine Tür, Windmaschinen erzeugen dahinter einen Blizzard. Eine winterfeste Gestalt kämpft sich auf die Bühne. Ein Narr, der bei solchem Wetter unterwegs ist! Stefan Hunstein trägt Kniehosen und Goiserer, er hat einen großen Rucksack bei sich. Er ist der Wanderer in einer seltsamen „Winterreise“. Schon glaubt man, schauerliche Motive, Fetzen aus dem 24-teiligen Liederzyklus von Wilhelm Müller (Text) und Franz Schubert (Musik), zu vernehmen, aber der archaische Sturm und die romantisch-revolutionären Anspielungen sind nur die Begleitmusik.

„Sonst spricht ja niemand mit mir“

Diese „Winterreise“ spielt nicht 1827, auch nicht auf alter englischer Heide, sondern im Kopf der Dichterin Elfriede Jelinek. „Ich spreche mit mir selbst, sonst spricht ja niemand mit mir“, behauptet eine Stimme gleich auf der ersten Seite ihres neuen Buches. Jelinek hat einen überbordenden Text in acht Kapiteln verfasst und als „Ein Theaterstück“ bezeichnet. Der holländische Regisseur Johan Simons hat es in seiner ersten Saison als Direktor der Kammerspiele uraufgeführt. Nach der Premiere am Donnerstag, nach gut drei anstrengenden Stunden mit einem sich erschöpfenden Ensemble, kann man sagen: Es lohnt sich, Jelinek zuzuhören. Sie spricht ironisch, anspielungsreich, ungeschützt. Sie hat Substanz und schont dabei weder die Autorin als Kunstfigur noch ihr Publikum.

Bei aller Raffinesse des Regisseurs und seiner Dramaturgin Julia Lochte, aus diesem winterlichen Lamento die Essenz herauszuholen und in starke Bilder umzusetzen, bei allem Willen der Akteure, sich zu verausgaben – diese Reise ist eine Tour de Force, sie flirrt vor Zitaten philosophischer und musikalischer Art sowie profaner Aktualität. Sie hat auch keine Mitte, sondern viele Brüche.

Am Anfang die alte Leier: Sein und Zeit und Kapital und kapitaler Missbrauch. Hunstein sinniert über „das Vorbei“, ein Mann ohne Schatten, das Vergangene ist in der Gegenwart ungültig: „Kreide kann man immer ganz leicht auslöschen, fast so leicht wie Menschen.“ Da geht schon wieder die Tür auf, die tolle Hildegard Schmahl und André Jung kämpfen sich rein, sie werden Vater und Mutter sein, mit Wiebke Puls als Tochter, aber erst sind sie Teil einer Hochzeitsgesellschaft, dann einer Kindesentführung.

Benny Claessens spielt eine fantastische Braut in Schwarz, die geschmückt wird für den Verkauf, Symbol für den bayerisch-kärntnerisch-balkanischen Hypo-Skandal, Kristof Van Boven im Kleid mit Ponyfrisur erinnert geisterhaft an den Fall Kampusch. Die findet kein Mitleid, keine Ruh, wird ins Publikum gestoßen. Um Finanzverbrechen, um unheimliche Verliese im Speziellen und den Fremdenverkehr an sich kreisen die Wortspiele Jelineks, von feinsten semantischen Offenlegungen bis zum peinlichen, peinigenden Kalauer. Die Wortkaskaden werden immer wieder durchbrochen von Versuchen, ein Lied anzustimmen, Kompositionen für Klavier, Summstimmen, Klopfen und Schluckauf (Konzeption: Christoph Homberger, Martin Schütz Czajkowski). „Fremd bin ich eingezogen“ als listiger Dilettanten-Chor, der in einem Seufzer endet. Man weiß ja schon: Wir alle werden stiften gehen, es wird hyperventiliert und die Hypo ventiliert: „Jede Braut ein Treffer.“

Mehr als zwei Stunden arbeitet sich Simons vor der Pause an den ersten sechs Szenen der „Winterreise“ ab, sie kulminieren im großen Monolog von Puls. Ihre Frisur mit Tolle ähnelt einer von Jelinek. Sie erzählt von der übermächtigen Mutter, der Liebe, dem Internet, das Sehnsucht weckt. Diese Vorstellung von Mechanismen der Verdrängung ist stark, und doch voller Intimität.

Als Kontrapunkt spielt Jung mit ebenso großer Meisterschaft nach der Pause in einem langen Solo den geistig verwirrten Vater, der von Mutter und Tochter in ein Heim abgeschoben wurde. Diese Wahnsinnsszene ist nicht mehr schrill, sondern bedrohlich resignativ. Jung findet immer den richtigen Ton, am besten wirkt er, wenn er fast tonlos und doch absolut verständlich ist. Wie viel Verzweiflung in diesem Charakter steckt, zeigt sich, wenn er seinen Holzstock gegen die Wand schleudert und dieser der Länge nach zerbricht. „Ich kann nicht weiter“, sagt er, doch es geht immer weiter, das Ensemble ist zurück auf der Bühne für grausame Spiele. Katja Herbers ist eine Verrückte, die spastisch in Holzpantoffeln steppt. Jetzt beginnt der Totentanz auf brüchigem Eis. Halb Holland ist lange zuvor in einem Video abgesoffen. Aber das ist eine andere Geschichte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.02.2011)

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