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Neue Edition: Bob Dylan sucht den Klang des Quecksilbers

Originalgenie mit Schal: Aus der Fotosession für das Cover von „Blonde On Blonde“.
Originalgenie mit Schal: Aus der Fotosession für das Cover von „Blonde On Blonde“.(c) Columbia/Jerry Schatzberg
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Wie „Subterranean Homesick Blues“, „Highway 61 Revisited“ und „Blonde on Blonde“ entstanden: Die CD-Box „The Cutting Edge“ enthält Aufnahmen aus 1965 und 1966. Ein Geschenk für Dylanologen, am besten mit Trommel dazu.

Blood on the Tracks: A Simple Twist of Fate?“ Dieser – einen Album- und einen Songtitel Bob Dylans verknüpfende – Titel einer Publikation über die Entstehung von Neuronen aus Knochenmarkzellen illustriert, dass sich auch unter Medizinern praktizierende Dylanologen finden. In der Weihnachtsausgabe des British Medical Journal befasst sich ein Beitrag („Freewheelin' Scientists: Citing Bob Dylan In The Biomedical Literature“) damit, im letzten Absatz stellen die Autoren fest, es gebe auch Indizien dafür, „dass Dylan großen Respekt für die Profession der Mediziner hat“. So habe er in „Don't Fall Apart on Me Tonight“ (1983) gesungen: „I wish I'd have been a doctor, maybe I'd have saved some life that had been lost.“

Nun, es gibt wildere Dylan-Zitate zum Thema. So tritt in „Desolation Row“ (1965) ein Dr. Filth auf, der „seine Welt in einem Lederbecher aufhebt“, unterstützt von einer Krankenschwester, die auf sein Zyanid aufpasst und auf die Karten, auf denen „Gnade seiner Seele“ steht. Weiters kommen in diesem Song u. a. Cinderella, Ophelia, Kain und Abel, Einstein (als Robin Hood verkleidet) sowie Casanova vor: das irrwitzige Regietheater eines jungen Mannes, dem die Welt im Kopf zu explodieren droht.

Drei Meisterwerke in 14 Monaten

Im Jänner 1965 begann Bob Dylan mit den Aufnahmen zu „Bringing It All Back Home“ (lange Zeit als „Subterranean Homesick Blues“ im Handel), im März 1966 vollendete er „Blonde on Blonde“, dazwischen lag „Highway 61 Revisited“: In kaum mehr als einem Jahr entstanden die drei Alben, mit denen Bob Dylan das getan hat, was er ein paar Jahre später in einem Song schelmisch ankündigen sollte: Er hat sein Meisterwerk gemalt. Ob sein zweiter Hattrick – „Blood on the Tracks“ (1975), „Desire“ (1976), „Street Legal“ (1978) – dem ersten ebenbürtig ist, darüber lässt sich streiten, es ist ein auf andere Weise zerrissenes lyrisches Ich, das in den „Songs of Redemption“ – diesen Untertitel gab Dylan dem Album „Desire“ – spricht.

Nein, Wiedergutmachung suchte der Dylan der Jahre 1965 und 1966 nicht. Oder doch? In „Sad-Eyed Lady of the Lowlands“, dem elfminütigen letzten Song auf „Blonde on Blonde“, in dem er eine, seine Frau und mit ihr die ganze Welt beschreibt, scheint plötzlich alles geordnet: „Who among them do you think could destroy you?“, ist die letzte Zeile der letzten Strophe, Dylan spricht hier wie im ganzen Song jedes Wort überdeutlich aus, als ob keine Silbe fehlen dürfte. Im auf der Sechs-CD-Ausgabe von „The Cutting Edge“ enthaltenen Take fliegt die Orgel des unvergleichlichen Al Kooper genauso wie in der veröffentlichten Version, doch im Text gibt es kleine Abweichungen. So hat die Lady am Anfang „mercury eyes“ statt einen „mercury mouth“.

Macht das einen Unterschied? Wahrscheinlich. Faszinierender ist, dass die allererste hier dokumentierte Probe-Aufnahme von „Like a Rolling Stone“ verblüffend ähnlich wie „Sad-Eyed Lady“ klingt, nicht nur dadurch, dass sie auch im Dreivierteltakt verfasst ist, sondern auch durch die Melodie. Dass in dieser Hymne des Hohns schon der Keim zur Versöhnlichkeit lag und liegt, ist das zu viel interpretiert?

Auf Hohn, Gift und Galle verstand sich der 24-jährige Dylan bestens. In „Positively 4th Street“ – das auf den Alben fehlt, nur als Single veröffentlicht wurde – etwa lässt er kein gutes Haar an der Verflossenen: „I wish that for just one time you could stand inside my shoes, you'd know what a drag it is to see you“, was für eine Abfuhr. Der Songtitel bleibt wie viele aus dieser Zeit rätselhaft, zu erklären, warum das enthemmte Kifferlied mit dem Refrain „Everybody must get stoned“ just „Rainy Day Women # 12 & 35“ heißt, bedarf höherer Dylan-Kabbalistik, den bestens gelaunten Musikern im Studio von Nashville erklärte er, es heiße „A Long-Haired Mule and a Porcupine Here“ . . .

Dass diese Musiker – die sich durchaus nicht nur auf Country verstanden – ein Segen für Dylan waren, hört man etwa aus dem mühsamen Werden von „Visions of Johanna“: Seine Liveband, die sich stolz „The Band“ nannte, schaffte die träumerische und doch klare Stimmung hörbar nicht, die Dylan wollte. Deshalb ging er nach Nashville.

Bei „Just Like a Woman“ fehlte etwas

Von einem „thin, wild mercury sound“ sprach er selbst: Die mühselige Abfolge der Takes zeigt, wie wichtig es ihm war, diesen zu finden. Vor allem bei den ganz großen Songs auf „Blonde on Blonde“, „Visions of Johanna“, „Just Like a Woman“ – das ohne die Zwischenstrophe, die Dylan erst spät einführte, wie ein Torso wirkt –, „I Want You“, „Sad-Eyed Lady“. Dazwischen findet sich auch auf diesen meisterlichen Alben Leichteres, Beiläufiges: „Obviously Five Believers“ etwa, dessen Riff 1955 von Bo Diddley erfunden wurde. Die Liner-Notes erzählen, dass Junior Wells und Buddy Guy es 1965 erstmals mit Mundharmonika und Gitarre unisono spielten: ein gutes Beispiel dafür, dass Dylan auch in seiner Originalgenie-Phase fest in einer Tradition stand.

Dem fortgeschrittenen Dylan-Fan kann man diese Edition gefahrlos zu Weihnachten schenken, am besten, in Anspielung auf eine Zeile aus „She Belongs to Me“, zusammen mit einer Trommel. Er kann daraus einiges lernen. Auch, wie fest diese Songs in seinem Kopf sitzen. „Stuck Inside of Mobile“ etwa: Die kanonische Studioversion enthält zwei auffällige Versinger, einmal singt Dylan „teacher“ statt „preacher“ und bessert sich gleich aus, einmal verhaspelt er sich in der Strophe mit dem Amok laufenden Großvater. In den auf „The Cutting Edge“ enthaltenen Versionen finden sich diese beiden Fehler nicht, und, ehrlich, sie fehlen.

LEXIKON

„Bootlegs“ – vom Wort für Stiefelschäfte, in denen in der Zeit der Prohibition die Alkoholflaschen geschmuggelt wurden –, auf Deutsch Schwarzpressungen, sind nicht von den Künstlern respektive ihren Plattenfirmen lizensierte Schallplatten. Seit 1991 gibt Bob Dylans Plattenfirma Columbia (die seit 1988 zu Sony gehört) offiziell die „Bootleg Series“ heraus, u. a. mit Aufnahmen der Rolling Thunder Revue (Vol. 5). Von Vol. 12 („The Cutting Edge“) gibt es drei Versionen: mit zwei, sechs und 18 (!) CDs, letztere angeblich mit wirklich allen Dylan-Studioaufnahmen der Jahre 1965 und 1966.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.12.2015)

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