Salzburg: Der halbe Mahler und der ganze Schostakowitsch

Gustavo Dudamel
Gustavo Dudamel(c) APA/BARBARA GINDL (BARBARA GINDL)
  • Drucken

Gustavo Dudamel mit seinem dem Sozialprojekt El Sistema entwachsenen Simón Bolívar Symphony Orchestra und Mariss Jansons mit seinem Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks.

Das Programmheft ist ja eine nützliche Sache: Bei zeitgenössischen Kompositionen erzählt es manchmal, was man gehört hat. Mitunter erzählt es aber auch, was man nicht gehört hat. Von einem „Halbdunkel zwischen Nacht und Tag, Traum und Realität“ ist hier (Salzburger Festspiele, Simón Bolívar Symphony Orchestra, Gustavo Dudamel) bei Mahlers Siebenter die Rede, einem „Werk des Zwielichts und der Dämmerung.“

Die Worte beziehen sich auf die Einleitung zum Kopfsatz, doch kann man sie allgemein auf Mahler anwenden, einen Komponisten der Zwischentöne. Bei ihm ist selten etwas eindeutig, in jedem Moment könnte alles auch ganz anders sein. Ein Komponist nicht nur des Realen, sondern immer auch des Möglichen. Auch das macht den Reiz seiner Musik aus. Dieses Schwebende herauszuarbeiten wäre eine der essenziellen Aufgaben des Mahler-Dirigenten.

Wäre, denn in Dudamels Interpretation ist alles reines Diesseits, von einer über die Langstrecke trotz aller Mittel an Masse und Klangmacht (zwölf Bässe!) lähmenden Eindeutigkeit. Auch wenn die VII. einen für Mahler optimistischen Grundton hat: Dudamel bleibt zu sehr an dieser positiven, positivistischen Oberfläche, der Klang bleibt grell und angeschärft. Kaum je wird eine andere Schattierung erreicht, nicht einmal, wenn die Streicher wie im dritten Satz Dämpfer aufsetzen, hilft das viel. Über die sehnsuchtsvollen Passagen in der Reprise spielt Dudamel ebenso drüber wie über das Morbide, das sonst im zweiten Satz zuverlässig für Gänsehaut sorgt. Nicht, dass die Symphonie ohne Wirkung bliebe. Aber es ist eine Wirkung ohne Verdeutlichung ihrer Ursache – also nur der halbe Mahler.

Aus den Slums an die Instrumente

Dafür bekam man tags darauf den ganzen Schostakowitsch. Mindestens. Mariss Jansons bewies mit seinem Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks, dass Intensität nicht an der Zahl der Musiker liegen muss. Intensität kann sich auch einstellen, wenn es gelingt, einen verhaltenen Satz wie das eröffnende Largo von Schostakowitschs Sechster, dieses Kompendium der Hoffnungslosigkeit, vom ersten Anheben bis zur letzten, resignativen Terz unter Hochspannung zu halten. Noch das feinste Piano ist hier ganz Energie. Die Stimmgruppen werden behutsam und transparent gegeneinander abgewogen, was zu magischen Momenten führt, wenn sich etwa die Flöte ihre Melodie über dem vibrierenden Teppich der tiefen Streicher sucht.

Der harte Schnitt zu den zwei optimistischeren Folgesätzen bringt nur ein Zwischenspiel. Schon mit den ersten Takten von Tschaikowskys in derselben Tonart (h-Moll) stehender Sechster ist man wieder mitten in der Düsternis, nach zwei weiteren Episoden schließt sich der Kreis mit dem auf erschütternde Weise absterbenden Adagio lamentoso. Ein bezwingender Bogen über einen Abend und zwei Symphonien hinweg.

Aber darf man das? Ein Konzert des Simón Bolívar Orchestra mit einem der bestens aufeinander eingespielten Bayern unter Jansons vergleichen? Ist nicht ein so geniales Projekt wie El Sistema, das hunderttausende Kinder aus den Slums an die Instrumente geholt hat, über jeden Zweifel erhaben? Tatsächlich geht einem das Herz auf, wenn man erlebt, mit welchem Enthusiasmus diese jungen Musiker sich die Seele aus dem Leib spielen. Wahr ist aber auch: Zwei international gefeierte Dirigenten präsentieren mit ihren Orchestern Meisterwerke der Symphonik, und das nicht irgendwo, sondern in Salzburg. Gleiches Recht für alle.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.