Rasen und klagen mit den alten Griechen

David Grossman in Berlin
David Grossman in Berlin(c) David Heerde / Action Press
  • Drucken

Eine Frau wird zur mörderischen Hündin, ein zynischer Komiker lässt uns mit einer Jugendgeschichte das Blut in den Adern gefrieren: Auffällig viel antike Tragödie steckt heuer in den Dramen der Festspiele – auch dort, wo man sie nicht gleich vermutet.

Das Festliche, Feiertägliche, Einmalige“ müsse man dem Theater wiedergeben, schrieb Max Reinhardt zwei Jahre, bevor er gemeinsam mit Hugo von Hofmannsthal die Salzburger Festspiele gründete. Mit Hofmannsthal brachte er schon 1910 eine monumentale Aufführung von Sophokles’ „Ödipus auf Kolonos“ auf Mega-Bühnen: In Wien war es 1911 der Zirkus Busch, Sigmund Freud gehörte zu den Zuschauern. Reinhardt sehnte ein „Theater der 5000“ herbei – ein Traum, der dann auch zur Gründung der Salzburger Festspiele führte.

Weder sie noch das barocke Welttheater wären ohne die Faszination der antiken Tragödie denkbar. Auffällig präsent ist diese heuer im Schauspiel wie in der Oper. Der für seinen oratorienhaften Stil bekannte deutsche Regisseur Ulrich Rasche inszeniert die älteste komplett überlieferte antike Tragödie, „Die Perser“ des Aischylos. Dessen rund 40 Jahre jüngerer Zeitgenosse Euripides ist 2018 gleich zwei Mal vertreten. Sein Stück „Die Bakchen“ war für Kleist unter anderem wichtige Anregung, als er seine „Penthesilea“ schrieb; sie ist in einer Fassung von Vasco Boenisch und der Regie von Johan Simons zu sehen, als Zweipersonenstück: Nur Penthesilea und Achill stehen einander in Liebe, die Rausch und Raserei ist, gegenüber. Die „Bakchen“ waren aber auch Vorlage für Hans Werner Henzes heuer ebenfalls aufgeführte Oper „The Bassarids“. In deutscher Übersetzung wurde sie 1966 unter dem Titel „Die Bassariden“ in Salzburg uraufgeführt.

Dionysos, der Gott von Wein und Rausch, kommt in den „Bakchen“ nach Theben und rächt sich an den Bewohnern, die seine Göttlichkeit nicht anerkennen – speziell an Pentheus, der ihn in seinem Reich nicht dulden will. Dionysos lässt alle Frauen in einen Wahn verfallen und eine davon, Pentheus’ Mutter, in unzurechnungsfähigem Zustand ihren Sohn zerreißen. Für Nietzsche war diese Tragödie die Hauptinspiration, als er in seiner „Geburt der Tragödie“ das Dionysische als das Orgiastisch-Maßlose, das Irrationale, den Rausch, das Kreative und Formlose (oder Formfreie) beschrieb – und in Gegensatz zum apollinischen Prinzip stellte.

Im Wahn zerreißen. Und noch einer war tief beeindruckt vom Stück des Euripides: Heinrich von Kleist. Im Originaltext hat er sich bis in Details hinein von den „Bakchen“ inspirieren lassen. Wie Agaue, Pentheus’ Mutter, im Wahnsinn ihren heiß geliebten Sohn zerreißt und nachher nicht mehr weiß, was sie getan hat, so verfährt auch Penthesilea mit Achill. „Er, in dem Purpur seines Bluts sich wälzend, rührt ihre sanfte Wange an, und ruft: Penthesilea! Meine Braut! Was tust du?“ Auch Pentheus berührt die Wange seiner Mutter, um sie zur Vernunft zu bringen. Penthesilea zerreißt ihren Geliebten gemeinsam mit ihren Hunden; sie sei, warnt die Oberpriesterin davor, selbst zur „Hündin“ geworden. In den „Bakchen“ wird Pentheus von seinem Großvater Kadmos warnend auf das Schicksal eines Mannes hingewiesen, der von seinen eigenen Hunden zerfleischt worden sei. Auch Euripides selbst wird in einer Legende von Hunden zerfetzt.
Drastischer, verstörender konnte man nicht aufbegehren gegen ein humanistisch gezähmtes Antiken- und Menschenbild, als Kleist es hier tat. Aber auch gegen „widernatürliche“ Gesetze, die den Einzelnen zerstören: in dem Fall Penthesilea, die sich ihren Geliebten nicht frei wählen, sondern nur einen Mann haben darf, den sie davor besiegt hat. Nur die anderen Amazonen und vor allem die Oberpriesterin finden, dass Penthesilea sich, indem sie gegen die Gesetze ihrer Gemeinschaft verstoßen hat, der Hybris schuldig macht.
Für eine ambivalente Sicht auf die Rebellion des Einzelnen war Euripides zweifellos das bessere Vorbild als Aischylos. Bei Aischylos sind göttliche und menschliche Gesetze in Harmonie und nicht in Frage gestellt; der Rebell wird auch hier der Hybris geziehen, ist aber eindeutig zu verdammen. Es ist der junge Xerxes, der mit Machtgier und Selbstüberschätzung das persische Heer in den Untergang führt. In der Schlacht von Salamis 480 v. Chr. unterliegt es den zahlenmäßig weit unterlegenen Griechen; Hunderttausende Perser sterben, fast die ganze Armee.
Aischylos erzählte hier Zeitgeschichte, er hat dieses – auch griechische – Massensterben selbst miterlebt. Und doch erscheint die Welt im Vergleich zu Euripides bei ihm noch in Harmonie. Der Mensch ist nicht Spielball unberechenbarer, schon etwas fragwürdig gewordener Götter. Der Maßlose wird bestraft, die höhere Ordnung eint Sieger und Besiegte – wie sie am Ende die gemeinsame Klage eint.

Lebensbeichte. Wie schwierig diese gemeinsame Klage sein kann, wird spürbar, wenn man die Romane des israelischen Schriftstellers David Grossman liest. Aischylos kämpfte selbst, der Friedensaktivist Grossman verlor seinen Sohn Uri 2006 in einem Kampfeinsatz im Libanon. Seitdem durchziehen Grossmans Bücher Fragen von Schicksal und Schuld – Schuld der Hinterbliebenen. In seinem jüngsten Roman „Kommt ein Pferd in die Bar“ – das die Salzburger Festspiele in einer Dramatisierung aufführen – gerät der Auftritt des zynischen Stand-up-Comedians Dov Grinstein zur Lebensbeichte: Als 14-Jähriger wurde Dov wegen eines Begräbnisses von einem Jugendlager weggeholt, ohne dass ihm gesagt wurde, wer gestorben sei. Vater? Mutter? Auf der endlosen Autofahrt begann der verzweifelte Jugendliche eine schreckliche Rechnung – um zu entscheiden, wer der Tote sein sollte . . .
Eine ähnliche Neuinterpretation der Kausalgesetze hatte Grossman (eine Lesung aus seiner Prosa findet in Salzburg am 7. August im „republic“ statt) schon in seinem ersten Roman nach dem Tod seines Sohnes vorgenommen. In „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ wird eine Mutter, deren Sohn zur Armee geht, von Vorahnungen seines Todes gequält. Sie beschließt, von zu Hause wegzugehen, im Gefühl, dass sie das Schreckliche verhindern kann, indem sie für die Schreckensnachricht nicht erreichbar ist. Auch sie hat, wie Dov Grinstein, das herkömmlicher Ursache-Wirkung-Logik spottende Gefühl, dass sie das Schicksal ihres Sohnes im Nachhinein beeinflussen könne – beziehungsweise, im schrecklichen Umkehrschluss, dass sie dafür verantwortlich sei. So ist auch Ödipus einst vergeblich vor seinem Schicksal geflohen.
Über hundert Jahre nach Reinhardts „Ödipus auf Kolonos“-Projekt, in dem schon die Idee der Salzburger Festspiele schlummerte, sind diese heuer mit Aischylos, Euripides, Kleist und David Grossman wieder bei ihren Wurzeln.

Mehr Infos gibt es hier!

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.