Klingendes Herzblut

(c) Marco Borggreve
  • Drucken

Die „Ouverture spirituelle“ steht im Zeichen der „Passion“: Begegnungszonen von menschlichem Leid und brennender Leidenschaft mit Musik aus fünf Jahrhunderten – und einer Hommage an die faszinierend unbeugsame Komponistin Galina Ustwolskaja.

Es ist mir gleichgültig, ob die Passion nun als traditionell oder avantgardistisch eingeschätzt wird. Für mich ist sie einfach echt. Und das genügt“, hat Krzysztof Penderecki über seine imposante „Lukaspassion“ festgestellt. Uraufgeführt 1966 im St.-Paulus-Dom zu Münster in Westfalen, ist das Werk ein Knotenpunkt der Musikgeschichte – weil Penderecki darin sämtliche Mittel des 20. Jahrhunderts einsetzt, um der Leidensgeschichte Jesu aktuelle Glaubwürdigkeit zu verleihen: Zwölftonreihen, Cluster und Klangflächen, Geräusche und Mikrotonalität verbinden sich in seiner Partitur zu packend emotionalem, unmittelbar verständlichem Ausdruck. Religiöse Kunst auf der Höhe der Zeit – und mit wichtigen politischen Obertönen: als Schritt der Versöhnung zwischen Polen und Deutschland sowie der Entspannung zwischen katholischer Kirche und kommunistischem Regime. Sängerscharen aus Krakau, ausgesuchte Solisten und das Orchestre Symphonique de Montréal unter Kent Nagano stoßen mit Pendereckis Passion am 20. Juli das Tor auf zu zehn Tagen voller Leid und Leidenschaften in der Ouverture spirituelle 2018.

Unbeugsame Ustwolskaja. Pendereckis eingangs zitierter Satz wirkt wie die Maxime für das ganze Programm der Ouverture: Faszinierend, wie hier Werke über Zeit- und Stilgrenzen hinweg Hand in Hand gehen und einander wechselseitig beleuchten. Das ist mehr und hinterlässt tiefere Spuren als ein bloßer Mix aus bewunderten Gipfelwerken vom Range der h-Moll-Messe Johann Sebastian Bachs oder Raritäten wie etwa Beethovens Oratorium „Christus am Ölberge“, die gleichwohl erklingen – aber zueinander in Beziehung gesetzt voll Bedacht und Herzensbildung. Denn: Was uns heute als alte Musik gilt, war einst bestürzend modern – und kann aufs Neue so klingen; umgekehrt entfalten avantgardistische Mittel die Kraft, zeitlos, ja archaisch zu wirken. Womit wir schon bei der Komponistin Galina Ustwolskaja wären, einer der imponierendsten Persönlichkeiten ihrer Zunft: Ihr gilt eine von 21. bis 24. Juli konzentrierte „Zeit mit Ustwolskaja“ während der „Ouverture spirituelle“. Als die Russin 2006 im Alter von 87 Jahren starb, hinterließ sie nur ein schmales Œuvre von rund zwei Dutzend gültigen Werken, die zusammen nicht einmal sieben Stunden dauern. Alles andere hat sie vernichtet oder mit der eisigen Aufschrift „für Geld“ versehen: Gebrauchsmusik, die ihre finanzielle Not im Kommunismus lindern half.
Ihr wahres Schaffen hielt sie dagegen rein von äußeren Beweggründen: Es sollte nur auf innerer Notwendigkeit fußen. Ihre Werke seien „zwar nicht religiös im liturgischen Sinne“, erklärte sie, „aber von religiösem Geist erfüllt“ – einem Geist, der zugleich unerhört widerständig wirkt. Extreme beherrschen ihre Musik: durch Knappheit, durch die Konfrontation ungewöhnlicher, auseinanderstrebender Klangfarben, sehr leise und sehr laute Dynamik sowie harsche Cluster, alles oft ohne Taktstriche notiert. Das und Ustwolskajas vom Regime so genannte „Hartnäckigkeit“, ihre Kompromisslosigkeit in der Musik wie im Leben, machte sie bei den Sowjets unbeliebt. In ihrer Heimat am Rand stehend, blieb sie folgerichtig auch im Westen lange Zeit unbekannt. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verbreitete sich die Kunde von dieser Einzelgängerin und ihrer Tonsprache voll gewaltig-gewaltsamer Eruptionen. Aus seelischen Abgründen brechen da Anklagen gegen alles Übel hervor, streng, unerbittlich, mit nie versiegendem Nachdruck. Festspielintendant Markus Hinterhäuser setzt sich seit Jahrzehnten für Ustwolskajas intime und zugleich schreiende Klaviermusik ein und spielt erneut alle sechs Sonaten an einem Abend – unvergesslich für alle, die es je erlebt haben; Patricia Kopatchinskaja tritt mit der Violine an seine Seite, und das Klangforum Wien unter Ilan Volkov bringt die größer besetzten Werke zum Klingen: Symphonien, die mit kargen Mitteln und in knappem Rahmen die ganze arge Welt verhandeln. Das schlägt auch eine Brücke zu Bernd Alois Zimmermann und seinem Trompetenkonzert „Nobody knows de trouble I see“, in dem er 1954 Spiritual, Jazz und Zwölftonmusik zu einer Anklage gegen den Rassenwahn verbunden hat: Håkan Hardenberger, die Wiener Philharmoniker und Andris Nelsons stellen es vor Mahlers „Zweite Symphonie“ mit ihrem Auferstehungsjubel, der das Finale der „Ouverture spirituelle“ bildet – als letztes Echo auf das überwältigende, strahlende Dur, mit dem zur Eröffnung Pendereckis „Lukaspassion“ verklungen war.

Klänge der Karwoche. Darüber hinaus greift Ustwolskajas Klangkosmos in der Kollegienkirche ineinander mit geistlicher Vokalmusik aus der Zeit um 1400 als Soundtrack zu Carl Theodor Dreyers Stummfilm „La Passion de Jeanne d’Arc“, gesungen vom Orlando Consort, sowie mit den „Musikalischen Exequien“ des Heinrich Schütz, der Musik für einen Trauergottesdienst, polyphon durchwirkt und doch zu Herzen gehend schlicht, interpretiert unter Philippe Herreweghe. Im Mozarteum trifft Ustwolskaja dagegen auf Franz Liszt und dessen kühne Sakralmusik, etwa seine Kreuzwegsvertonung „Via crucis“, in der er bis an die Grenzen der Tonalität vorgedrungen ist: Igor Levit, der Chor des Bayerischen Rundfunks und Howard Arman geleiten uns durch die 14 Stationen dieser Leidensgeschichte. Nicht allein der Karfreitag, sondern die ganze Karwoche findet ihren Ausdruck im „Officium Hebdomadae Sanctae“ von Tomás Luis de Victoria, dem bedeutendsten Komponisten der Renaissance in Spanien: eine Sammlung von 37 Einzelgesängen, gedacht für die Finstermetten am Palmsonntag, Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag. Erlesene Vokalpolyphonie in der Kollegienkirche, verteilt auf zwei Abende ab 21 Uhr und zu spirituellem Leben erweckt durch La Capella Reial de Catalunya und Hespèrion XXI unter Jordi Savall.

Salome und Rosenkranz. Weitere Höhepunkte versprechen Komponisten wie Alessandro Stradella und Heinrich Ignaz Franz Biber. Stradellas Oratorium „San Giovanni Battista“ entstand für den Palmsonntag des Heiligen Jahres 1675: ein barockes Pendant zu Strauss’ „Salome“ auf dem Opernspielplan, das mit orchestraler Klangphantasie und virtuosen Anforderungen an die Sänger prunkt. Den Propheten gibt Countertenor Christophe Dumaux, der in Salzburg schon an der Seite von Cecilia Bartoli reüssiert hat, Giulia Semenzato fordert erfolgreich seinen Kopf, Václav Luks steht am Pult des Collegium 1704. Und Biber, Violinvirtuose und „wirklicher Kapellmeister“ am Hof des Salzburger Fürsterzbischofs, ist mit fünf Werken aus seinem berühmtem Zyklus der „Rosenkranzsonaten“ für Violine und Continuo vertreten, in dem er die verschiedenen Mysterien des Gebetes abhandelt: ein Musterbeispiel für musikalische Symbolik auf allen Ebenen, entschlüsselt von der Geigerin Isabelle Faust und kombiniert mit Violinsonaten von Bach. Leid und Leidenschaft, einfach echt: das genügt.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.