Das Kellersyndrom: Wie bizarr ist Österreichs Psyche wirklich?

Zu wenig Therapie, viel Verdrängung. Was ist dran an den Klischees über die Österreicher? Und kann man von Merkmalen des Kollektivs auf das Verhalten des Einzelnen schließen? Ein Blick in Statistik und Expertenmeinung wirkt beruhigend und beunruhigend zugleich.

Der Keller und damit alles Doppelbödige und Unterschwellige als Symbol für die österreichische Seelenlandschaft – zumindest in der internationalen Medienwelt: Im dunklen Untergrund, so flüsterte man nach Bekanntwerden der Fälle Amstetten und Kampusch, hält das schmucke Alpenland seine Schattenseiten gefangen – und erschrickt, wenn das Verdrängte plötzlich an die Oberfläche dringt.

Stichhaltige Argumente gegen solche Zuschreibungen gibt es genug: Neben der haltlosen Verallgemeinerung sind Inzest und jahrelange Vergewaltigung Phänomene, die auch Länder wie Belgien und Großbritannien kennen. Und dennoch bleibt die Frage: Ist Österreich ein Land der Wegschauer und der bizarren Psychostrukturen?

Ein Blick in die europäische Statistik bringt Erleichterung: Nach einer Eurobarometer-Umfrage zur mentalen Gesundheit der Unionsländer ist zumindest der Anteil jener Menschen, die in Österreich unter starkem psychischen Stress stehen – in Form von Depressionen, Angst- und anderen Störungen –, etwa gleich hoch wie in Deutschland, Luxemburg oder Belgien. Deutlich stärker betroffen sind Italien und Portugal, deutlich weniger hingegen Schweden.


Wenige in Therapie. Was psychotherapeutische Betreuung anbelangt, klaffen Realität und Bedarf aber weit auseinander: 2007 waren in Österreich 34.115 Menschen in Psychotherapie, das sind 0,41 Prozent der Gesamtbevölkerung – nach Schätzungen des österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie würden 2,1 bis fünf Prozent einen Therapieplatz benötigen. Hier gilt es allerdings zu bedenken, dass ein Teil der Therapiebesucher die Stunden komplett selbst finanziert und daher in keiner Statistik aufscheint.

Dennoch: Die Diskrepanz zwischen Bedarf und Inanspruchnahme hat zwei Gründe: Erstens ist die Zahl der von den Krankenkassen finanzierten Therapieplätze knapp. Wer keinen Zugang hat, erhält nur 21,80 Euro Refundierung pro Therapiestunde – nicht viel bei Durchschnittspreisen von 80 Euro. Dazu kommt die mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz für Psychotherapie: „Viele Menschen beginnen ihre Therapie mit starken Schamgefühlen“, meint Eva Mückstein, Präsidentin des österreichischen Verbands für Psychotherapie. „Psychische Probleme werden gesellschaftlich leider immer noch als Schwäche interpretiert.“

Eine ähnliche Einschätzung kommt von der psychoanalytischen Beratungsstelle des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse: „Die Entscheidung, uns aufzusuchen, ist oft ein Ergebnis monate- bis jahrelanger Überlegungen“, sagt Psychoanalytikerin Hemma Stallegger-Dressel. Ihr Kollege, der Psychiater Wolfgang Groysbeck, diagnostiziert speziell der Psychoanalyse ein Akzeptanzproblem: Sie werde „als etwas verstanden, wofür nur die Reichen Zeit haben“.

Woran liegt dieser wenig wertschätzende Umgang mit Sigmund Freuds Erbe? „Die Botschaft der Psychoanalyse ist unangenehm: Dass es Dinge in der Psyche gibt, die sich dem unmittelbaren Einfluss entziehen, deren Bearbeitung Zeit und Beziehung benötigt – das hört man nicht gern in einer Zeit, in der alles schnell und effizient sein soll.“

Was aber bewegt Menschen, doch eine Therapie zu beginnen? Die größte Gruppe klagt über Depressionen. Groysbeck nennt diese das „Präsentiersymptom“, da sich oft anderes dahinter verbirgt, aber die Depression als dem Arzt leicht vermittelbar erlebt wird. Ähnlich häufig sind Ängste, Panikattacken, Burn-out-Symptome und psychosomatische Störungen. Eine interessante Beobachtung kommt von Stallegger-Dressel: Sie begegnet häufig über 60-Jährigen mit Schuldgefühlen – aus dem Glauben heraus, etwas „nicht geschafft zu haben“, den Kindern in der Erziehung „etwas angetan zu haben“. Oft brechen diese Konflikte im Alter auf, wenn der Tod des Lebenspartners oder der Pensionsbeginn Zeit zum Nachdenken lässt.

Insofern lässt sich der in den Lebensabend verlegte Therapiebeginn auch als Produkt eines langen Verdrängungsprozesses interpretieren – so wie hinter den meisten psychischen Auffälligkeiten ein nichtverarbeitetes Trauma steckt. Mit der Verdrängung als „Markenzeichen“ der kollektiven österreichischen Psyche kann Stallegger-Dresselaber wenig anfangen: „Natürlich gibt es kulturell geprägte Tendenzen, aber verdrängte Erlebnisse liegen auch Fällen von Kollegen im Ausland zugrunde.“


Typisch österreichisch. Mangelnde Konfliktfähigkeit, Angst, Dinge offen anzusprechen, Präferenz für verstecktes Agieren über Seilschaften – diese Charakteristika erkennt Eva Mückstein sehr wohl als solche einer typisch österreichischen Psychostruktur. Aber kann man wirklich aus Merkmalen des Kollektivs auf das Verhalten des Einzelnen schließen? Eben nicht. „Natürlich leben wir mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus in einer Gesellschaft, die mit starken Schuldgefühlen umgehen muss und erst spät mit der Aufarbeitung begonnen hat – aber was das in jedem Einzelnen bewirkt, kommt auf seine Vorgeschichte an, da ist eben jede Psyche individuell.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2009)

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