Narzisstische Epidemie ist ausgebrochen

Narzisstische Epidemie ausgebrochen
Narzisstische Epidemie ausgebrochen(c) REUTERS (PILAR OLIVARES)
  • Drucken

Zwischenmenschliche Verrohung ist für Kriminalpsychiater Reinhard Haller einer der Hauptgründe für die eklatante Zunahme der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Betroffene sind egozentrisch, empathielos, erniedrigend und empfindlich.

Da hilft nur noch Flucht! „Um solche Menschen sollte man unbedingt einen großen Bogen machen“, rät Reinhard Haller, wenn er von Personen mit schweren narzisstischen Persönlichkeitsstörungen spricht. Der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, vor allem als international renommierter Experte für Kriminalpsychiatrie bekannt, ist sehr oft mit dem Bösen, mit dem Grauen konfrontiert und hat unzählige Male erfahren: „Häufig stecken hinter großen Verbrechen narzisstische Elemente. Narzissmus ist also eine der Triebfedern bei Serienkillern, Sexualmördern, Amokläufern.“

Allein: Wir entkommen ihnen im Alltag nicht, den narzisstischen, sehr oft schillernden Persönlichkeiten, den eitlen, sehr oft erfolgreichen Egozentrikern, den nach Lob Lechzenden, den profilierungssüchtigen, sehr oft äußerst fleißigen Ehrgeizlern, den angerührten Mimosen, wir sind umzingelt von ihnen. „Die Welt ist voller Narzissten. Die narzisstische Epidemie ist aus- und das Zeitalter des Narzissmus angebrochen. Der Narzissmus steht an der Schwelle von der problematischen und krankhaften Störung zur geltenden Lebensauffassung“, schreibt Haller in seinem neuesten Buch „Die Narzissmusfalle“.„Auf Schritt und Tritt begegnen wir narzisstischen Persönlichkeiten, im Job, in der Politik, in der Partnerschaft, Narzissmus ist zum Mainstream, ist zum Kult geworden. Wir befinden uns in einer Zeit zwischenmenschlicher Verrohung, und das ist für mich einer der Hauptgründe für die eklatante Zunahme von Narzissmus“, sagt er im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Was früher Makel und Krankheit gewesen sei, sei heute salonfähig geworden.

Normal oder krank? Stichwort Krankheit: Eine Prise Narzissmus im Persönlichkeits-Portfolio sei durchaus gesund bis erwünscht und dem friedlichen Miteinander auch nicht abträglich. „In bekömmlichem Maß ist er Nahrung für das Ich und fördert den gesunden Selbstwert.“ Werde aus der gesunden Portion Egoismus jedoch unmäßig gesteigertes Geltungsbedürfnis, könne nicht mehr von gesundem Verhalten gesprochen werden. „Wenn er krankhaft wird, gehört er zu den am schwersten zu behandelnden Störungen und treibt meist auch die Therapeuten zur Verzweiflung.“

Ein echter Narzisst ist nämlich immer auch uneinsichtig, nur er hat recht, seine Sicht der Dinge ist das einzig Wahre. „Der wird nie sagen, mir hat das Essen nicht geschmeckt, der wird immer sagen, das Essen ist mies. Einen anderen Geschmack gibt es nicht.“ Und freilich: Schuld sind immer nur die anderen, er doch nicht. Er, der Gute, der Tolle, er weiß alles besser, ihm unterlaufen doch keine Fehler. Auch jener Manager, der eine Frau mit seinem Auto niederreißt und zum Pflegefall macht, ist sich nicht der geringsten Schuld bewusst. Der ärgert sich nur darüber, dass ihn der lästige Vorfall Zeit gekostet hat. Haller weiß auch über viele Frauen zu berichten, deren Männer noch nie ein Wörtchen der Entschuldigung, des Bedauerns gefunden haben. In 20, 30 Ehejahren nicht. An allem waren immer nur die Ehefrauen schuld, und wenn es hundertmal anders war. „Narzissten saugen ihre Partner oft vollständig aus, eine Katastrophe“, nennt es Haller.

Kein Mitgefühl. Beziehungskatastrophen, die mit Mord und Totschlag enden, häufen sich entsprechend der Zunahme an Narzissten. Vorwiegend sind es Männer, die ihre Frauen erschlagen, erstechen, erdrosseln, wenn sich diese entfernen wollen. Da ein Narzisstenego ein Verlassenwerden nicht akzeptieren kann. Und verstehen, warum eine Frau nach Jahren zwischenmenschlicher Kälte, ständiger Schuldzuweisung und schmerzhafter Empathielosigkeit endlich aus diesem Gefängnis ausbrechen will, kann er sowieso nicht. Denn Mitgefühl, Verständnis für den anderen sind bei Narzissten extrem rar bis nicht vorhanden.

Der Mangel an Empathie ist ein weiteres untrügliches Merkmal von Narzissmus. Und hinsichtlich Empathielosigkeit hat man auch die einzige biologische Erklärung für die vielgestaltige Art der narzisstischen Störung: Jene Hirnregion, die für soziales Denken und Empathie zuständig ist, weist bei Narzissten weniger Volumen und Substanz auf. Außerdem ist Mitfühlenkönnen ein Ausdruck einer selbstsicheren, reifen Persönlichkeit – und damit können Narzissten nun einmal nicht aufwarten. Ist das Unvermögen, sich in einen anderen Menschen hineinfühlen zu können, ganz stark ausgeprägt, spricht man von der psychopathischen Form des Narzissmus.

„Dem Narzissten ist es völlig egal, wie es den Mitmenschen, wie es Kollegen, der Ehefrau oder Mutter geht.“ Kann sein, dass Betroffene als Baby zu wenig Liebe und Aufmerksamkeit bekommen haben und aus diesem Grund jedwede Gefühle für andere sukzessive gekillt haben. Muss aber nicht sein, einig sind sich Wissenschaftler, Psychiater, Psychologen da nicht. Ebenso wenig, wenn es um die Frage geht, warum denn ein Narzisst so immens abhängig von steter Bewunderung durch die Umgebung, so versessen auf ständige Anhimmelei ist. Haller: „Bewunderung ist seine Muttermilch.“ Mit ein Grund dafür ist die Tatsache, dass viele Narzissten Masken tragen: Hinter gorillahaftem Machtgetöse und grenzenloser Eitelkeit verstecken sich sehr häufig auch große Unsicherheit und Minderwertigkeitskomplexe: nach innen ängstlich und verunsichert, nach außen selbstsicher und abwertend, eine krankhafte Form eines Kompensationsversuches. Und wer dann (berechtigte) Kritik an diesem psychisch gestörten Menschen übt, wird mit Beleidigungen, Gehässigkeiten, Verachtung und Zynismus überschüttet.

Haller: „Narzissten sind nur im Austeilen stark, Einstecken können sie nicht.“ Denn Kritik schürt tiefste Ängste, doch nicht so großartig, nicht einmalig, nicht besser als die anderen zu sein. Sie muss also im Keim erstickt werden, der Betroffene reagiert mit enormer Empfindlichkeit. „Die findet man extrem gesteigert beim neurotischen Narzissmus. Selbst der Versuch einer sachlichen Reflexion wird als bösartig, hinterhältig und unverzeihlich qualifiziert.“ Derlei kranke Kränkungstendenzen sind dann immer wieder die Wurzel für Amokläufe. „Das passiert deswegen häufig in Schulen, weil sie quasi ein Hort für Kränkungen sind.“

Zum vollen Störungsbild des Narzissmus kommt neben Egozentrik, Empfindlichkeit und Empathiemangel noch ein viertes E: Entwertung und Erniedrigung des anderen. „Ist vor allem dieses Element vordergründig, schöpft eine Person vor allem daraus ihren Selbstwert und versucht sich selbst aufzuwerten, indem sie andere Menschen stets erniedrigt und klein macht, liegt die schlimmste Art, der bösartige Narzissmus vor.“ Er treibt den Ehemann, der seine Frau verbal erniedrigt oder klein prügelt genauso an wie den Vergewaltiger, er äußert sich in Schuldzuweisung, Mobbing, Zynismus und gipfelt in seinen grausamsten Auswüchsen im Handwerk gewissenloser Serienkiller und gewalttätiger Sadisten.

Warum in erster Linie von männlichen Narzissten die Rede war? Da diese Störung mindestens doppelt so viele Männer wie Frauen betrifft. Dies auch deswegen, weil mehr Männer in Machtpositionen sind. Haller: „Und Macht macht immer narzisstisch.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.