Mann und Frau brauchen andere Medikamente

Schlaflosigkeit
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Schlafmangel tut Frauen weh, Männern nicht. Rauchen schadet dem weiblichen Geschlecht mehr. Die Gender-Medizin hat noch viel zu tun.

Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“. Dieser saloppe Buchtitel, mit dem Paartherapeut John Gray in den 1990ern weltberühmt wurde, hat auch in ärztlichen Belangen Berechtigung. Der Begriff Gender hat schon vor einigen Jahren Einzug in die Medizin gehalten. Und das zu Recht. Denn schon allein am Beispiel Aspirin zeigt sich einer der vielen geschlechtsspezifischen Unterschiede: Männer schützt das bekannte Medikament eher vor einem Herzinfarkt, Frauen indes eher vor einem Schlaganfall. Auch der bekannte Wirkstoff Digitalis zur Behandlung chronischer Herzschwäche hat seine Gender-Seite: Für Männer ist er hilfreich, bei Frauen kann er im allerschlimmsten Fall sogar zu erhöhter Sterblichkeit führen. Solche und darüber hinaus gehende Dinge zu beforschen und zu beachten ist eine der Aufgaben von Gender-Forschung und -Medizin. Streng genommen müsste es ja Sex- und Gender-Medizin heißen.

Das Wort Gender steht für das soziale Geschlecht, im medizinischen Fall also die Art, wie Mann und Frau die eigene Gesundheit wahrnehmen und damit umgehen. Das biologische Geschlecht heißt im angloamerikanischen Raum „sex“. Diese Feinheit hat man aber – bewusst oder unbewusst – negiert: Als in Europa die ersten Fachgesellschaften gegründet wurden, hatten alle das Wort Gender in ihren Namen. „Der Begriff hat sich inzwischen allgemein eingebürgert und wird sich auch nicht mehr ändern“, sagt Margarethe Hochleitner von der Medizinischen Universität Innsbruck in einem Interview mit der Fachzeitschrift „Hausarzt“. Gute Gender-Medizin hat also sowohl die sozialen und psychischen als auch die biologischen Unterschiede zwischen Frau und Mann in ihrem Fokus.

Einige der neuesten Erkenntnisse dazu wurden beim Kongress der europäischen Schmerzföderation Efic in Florenz präsentiert. Demnach verstärkt Schlafmangel bei Frauen das Schmerzempfinden, bei Männern jedoch nicht. Außerdem, so ergab eine aktuelle kanadische Studie der Simon Fraser University, sind Frauen mit chronischen Schmerzen lärmempfindlicher als ihre männlichen Leidensgenossen – das gilt auch für alltägliche Geräusche, die ein Schmerzfreier gar nicht als Lärm wahrnimmt. Chronischen Schmerzpatientinnen kann das wehtun – Männer lässt das hingegen kalt. Warum das so ist, wurde noch nicht geklärt.

Ein ungelöstes Rätsel der Medizin ist auch folgende Tatsache: Frauen gehen zwar öfter zu Ärzten und Vorsorgeuntersuchungen, lassen sich bereitwilliger helfen, erhalten mehr Medikamente, leben auch im Schnitt fünf Jahre länger als Männer. Aber: „Sie haben verhältnismäßig weniger gesunde Lebensjahre, haben mehr chronische Krankheiten, mehr Funktionseinschränkungen und Behinderungen“, sagt Alexandra Kautzky-Willer, Inhaberin des Lehrstuhls für Gender-Medizin an der Medizinischen Universität Wien. Eine paradoxe Situation, die niemand so recht erklären kann. Tatsache ist: Frauen sind hinsichtlich ihrer Gesundheit pessimistischer als Männer, fühlen sich häufiger krank. Bei Burschen ist es nach wie vor uncool, sich zu sehr mit der eigenen Gesundheit auseinanderzusetzen, vor Vorsorgeuntersuchungen schrecken Männer gern zurück. Dennoch fühlen sich Österreichs Männer in Umfragen gesünder als die Frauen.

Kränker als Männer macht Frauen das Rauchen. „Bei ihnen steigt das Risiko für einen Herzinfarkt um 25 Prozent stärker an als bei rauchenden Männern“, sagt Kautzky-Willer. Und sie greifen aus anderen Gründen wie Männer zur Zigarette: „Frauen rauchen häufig, um nicht zu- oder um abzunehmen“, meint Anita Rieder, Leiterin des Instituts für Sozialmedizin der Medizinischen Universität Wien und vor zehn Jahren eine der ersten Gastprofessorinnen für Gender-Medizin an der Hochschule Hannover. Da das weibliche Geschlecht generell immer öfter diesem Laster verfällt, tauchen auch bei (jüngeren) Frauen häufiger Blasentumore und Lungenkrebs auf. Den kleinen Unterschied präsentieren die beiden Geschlechter auch beim Rauchverhalten: Frauen sind stärker psychosozial vom Rauchen abhängig und haben generell weniger Lust, damit aufzuhören. Wenn sie es doch tun, haben sie höhere Rückfallquoten. Als mögliche Ursachen werden stärkere Entzugserscheinungen bei Raucherinnen diskutiert.

Alkohol wirkt anders. Frauen holen auch beim Wein- und Bierkonsum auf. Sie vertragen aufgrund physiologischer Faktoren generell weniger Alkohol als Männer – und er schadet ihrer Leber mehr als männlichen Trinkern. So ist das Risiko einer Leberzirrhose beim weiblichen Geschlecht schon bei regelmäßigem Konsum von 20 Gramm reinen Alkohols deutlich erhöht, bei Männern erst bei 40 Gramm (20 Gramm Alkohol entsprechen etwa 0,5 l Bier). Allerdings schädigt Alkoholkonsum das männliche Herz häufiger als das der Frau.

Jüngere Frauen greifen meist just for fun zum Glas. Erwachsene Frauen trinken häufiger als Männer bei sozialen Konflikten und unangenehmen Gefühlen; dieser Effekt ist umso stärker, je depressiver die Frau ist, fand die Wissenschaftlerin Cathy Lau-Barraco in einer Studie an der University of Central Florida vor einigen Jahren heraus.

Während ein geringes Bildungsniveau vor allem für junge Männer ein erhöhtes Risiko für Alkoholmissbrauch darstellt, trinken Frauen mit hoher Bildung in einigen europäischen Ländern im Vergleich zu weniger gebildeten Frauen mehr Champagner und Co. „Frauen sind auf andere Art und Weise als Männer zu einer Entzugstherapie zu bewegen“, sagt Henriette Walter, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie und Alkoholsuchtexpertin an der Medizinischen Universität Wien. Dies habe sicher auch damit zu tun, dass die Akzeptanz für trinkende Männer in der Gesellschaft noch immer höher ist. Auch die betroffenen Frauen selbst sind mit ihrem Trinkverhalten nicht glücklich, empfinden Alkoholkonsum häufig als inkompatibel mit Weiblichkeit. Ein Mann gesteht sich zudem meist viel leichter ein, ein Problem mit Alkohol zu haben, als eine Frau.

Ein Problem haben immer mehr Männer mit ihrem Körper. Waren Essstörungen vor rund zehn Jahren noch mehr oder weniger eine weibliche Domäne, finden sich zunehmend junge Männer im Kreis der Essgestörten. Freilich gibt es noch immer einen weiblichen Überhang, aber die Schere wird kleiner. Männer müssen heutzutage auch gut aussehen, Schlanke machen eher Karriere. Abnehmen ist also in Zeiten, in denen die Menschheit immer dicker wird, für beide Geschlechter ein wichtiges Thema geworden. „Die Herangehensweise ist allerdings geschlechterspezifisch“, sagt Christiane Handl, ärztliche Leiterin des Fachbereichs Rehabilitation psychischer Erkrankungen im Lebensresort Ottenschlag, eine der ersten Kur- und Rehabilitationseinrichtungen in Österreich, die auf Gender-Aspekte Rücksicht nahm und nimmt. „Frauen setzen viel mehr auf Diät, Männer mehr auf Sport.“

Die globale Fettsuchtepidemie hat auch zu einer weltweiten Zunahme von Harnsteinen geführt. Da führen aber noch immer die Männer im Verhältnis 3:1. Grund: Sie haben einen konzentrierteren Urin und damit eine verstärkte Neigung zu Harnsteinbildung. Bei den Gallensteinen überwiegen aber übergewichtige Frauen.

Kein eindeutiger Grund wurde für eine andere Tatsache gefunden: Nüchtern haben Männer eher einen höheren Blutzucker, Frauen weisen verstärkt postprandial, also nach einem Essen, hohe Zuckerwerte auf. „Daher sollte man bei Frauen – viel häufiger als dies geschieht – einen Glukosetoleranztest vornehmen, um zu sehen, wie sich ihr Blutzuckerspiegel nach Nahrungsaufnahme verhält“, empfiehlt Handl. Stichwort Diabetes: Frauen haben generell ein höheres Risiko, diese Krankheit zu entwickeln. Und: „Bei Frauen mit Zuckerkrankheit und erhöhtem Bauchfett steigt das Herzkreislaufrisiko stärker als bei männlichen Diabetikern mit Bauchfett“, sagt Kautzky-Willer, die auch wissenschaftliche Leiterin im auf Frauenprobleme spezialisierten La-Pura-Women's-Health-Resort Kamptal ist.

Mögen Mediziner Männer mehr? Schön langsam, aber leider noch immer nicht flächendeckend, spricht sich (auch in der Medizin) herum, dass Herzinfarkt keine Männerkrankheit ist. Frauen bekommen ihn zwar später, sterben aber öfter daran. Das liegt zu einem gewissen Prozentsatz wohl auch daran, dass sie weniger lebensrettende Therapien erhalten und sich der männliche Herzinfarkt typischer äußert – mit Brustschmerzen, Engegefühl in der Brust, Atemnot und Schweißausbrüchen. Frauen hingegen klagen oft über Übelkeit, Schmerzen im Oberbauch, Rücken oder Nacken – und werden mit einer Fehldiagnose und Schmerztabletten nach Hause geschickt.

Was Frauen sich vielleicht von Männern abschauen könnten, ist die Sprache, mit der Symptome geschildert werden. „Männer sind da zack, zack. Zahlen, Daten, Fakten zählen, ohne Umschweife. Das ist uns Ärzten natürlich lieber“, gibt Psychiaterin und Neurologin Henriette Walter zu. Blumige Ausschweifungen sind gerade beim Kassenarzt mit Fünfminutenmedizin nicht erwünscht. Ist der Mann also Liebkind der schnellen Medizin? Keinesfalls – betonen zumindest alle befragten Ärzte und Ärztinnen unisono.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2014)

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