SMS: Die Kultur des gesenkten Blicks wird 20

Kultur gesenkten Blicks wird
Kultur gesenkten Blicks wird(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Sie hat die Kommunikation, die Körperhaltung und das Lebensgefühl der Menschen in den letzten zwei Jahrzehnten massiv geprägt - das SMS feiert einen runden Geburtstag.

Die Busstation ist der Schreibtisch des mobilen Zeitalters. Und das seit mittlerweile ziemlich genau 20Jahren, seit am 3. Dezember 1992 das erste SMS der Welt verschickt wurde. Gut, der Versand ging damals noch von einem PC aus, doch empfangen wurde die Botschaft schon von einem Mobiltelefon, einem Orbitel 901. Diese Übertragung war jener Schritt in der Evolution der schriftlichen Kommunikation, die den Verfasser endgültig vom Schreibtisch löste – und den Schreibvorgang an die Bushaltestelle verlegte.

Wobei die Bushaltestelle nur das plakativste Beispiel ist – das Warten mit dem Blick auf das Handy brannte sich einfach am stärksten in das Stadt- und Landbild ein. In Wirklichkeit entkoppelte das SMS den Schreibenden vollständig von räumlichen Vorgaben. Die schriftliche Kommunikation war plötzlich an jedem Ort möglich, im Kinderzimmer, auf dem Sportplatz, in der Schule. Und – genau das macht auch einen großen Reiz vor allem für Jugendliche aus – weitgehend unkontrolliert von den Eltern.


Neue Körperlichkeit. Mit dem SMS begann aber nicht nur ein neues kommunikatives Zeitalter, auch eine neue Körperlichkeit setzte damit ein. Der Blick der Menschen, der bisher horizontal ausgerichtet war, begann Richtung Boden zu wandern – der Kopf richtete sich nach unten, die Augen fixierten das Display. Es war der Anfang einer Kultur des gesenkten Blickes. Zart noch, schließlich ist eine Nachricht schnell geschrieben, der Blick kann wieder nach oben wandern. Doch aus der einzelnen Textbotschaft wurden mehrere; vom Bildschirm auf dem alten Nokia schien eine Gravitation auszugehen, die den Nacken immer wieder nach unten zog. Bis der gesenkte Kopf zum normalen Erscheinungsbild des mobilen Menschen wurde, sollte aber noch einige Zeit vergehen. Noch war das Smartphone ja nicht erfunden.

Die mobile Körperlichkeit rückte aber auch noch einen weiteren Spieler in den Mittelpunkt, der auf kommunikativ-schriftlicher Ebene bis dato nur wenig zu sagen hatte: Der Daumen wurde zum Primus der kommunikativen Körperteile. Nein, nicht in Form des „Daumen hoch“ auf Facebook, um Zustimmung auszudrücken – das kam erst später und ist außerdem eine ganz andere Geschichte –, sondern als Joystick, der sich in atemberaubender Geschwindigkeit über die Tasten des Handys bewegte und mit gezieltem Druck auf die Zahlentasten Briefe schrieb. Umständlich, eigentlich.

Denn um einen Buchstaben auszuwählen, musste eine der zwölf Tasten bis zu vier Mal gedrückt werden – dazu kamen Wartezeiten, sollte ein Buchstabe ausgewählt werden, der auf derselben Zahl lag wie der vorherige. Doch mit der Zeit entwickelte sich so etwas wie schlafwandlerische Routine, zielsicher und schon ohne Blick auf das Display waren da die Texte innerhalb weniger Sekunden fertig getippt.

Dafür war es plötzlich möglich, jederzeit und überall mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Und das, ohne sich am Schreibtisch niederlassen zu müssen und auf edlem Briefpapier, in langen, ausformulierten Sätzen ein kleines Kunstwerk zu verfassen, das einige Tage später seinen Adressaten erreichen sollte. Auf einmal ging es schnell, einfach und unverbindlich.

Und einer der größten Trümpfe: Das SMS ist perfekt geeignet, um Konfliktsituationen zu umschiffen. Schließlich kann man sich die direkte Reaktion des Gegenübers ersparen, wie sie im direkten Kontakt unausweichlich wäre. Eine Beziehung auf diese Weise zu beenden geht also auch ohne lange Streiterei. Ob es besonders ehrlich und stilvoll ist, das ist wieder eine andere Frage. Doch auch bei weniger dramatischen Ereignissen ist die Lösung per SMS praktisch. Man kann sich etwa mit der Antwort auf eine Frage Zeit lassen. Und erst dann zurückschreiben, wenn man eine Lösung gefunden hat. Oder es sich gerade richtig anfühlt.


Geschrieben sprechen. Wobei manche eine solche Phase des Herunterkühlens im kommunikativen Alltag fast schon als Verstoß gegen die Etikette betrachten. Denn jede Minute, die zwischen dem Senden und dem Eintreffen der Antwort vergeht, beinhaltet eine Bandbreite psychologischer Erklärungsversuche: Will das Gegenüber nicht antworten? Bin ich in seiner Gunst gesunken? Habe ich etwas falsch gemacht? Oder hat er das Piepen einfach nicht gehört – oder die Vibration nicht gespürt? Was in dem SMS drinsteht, ist dabei gar nicht so entscheidend – es geht eher um die Kommunikation an sich, der schnelle Text verläuft wie ein Gespräch, nur eben nicht von Angesicht zu Angesicht. Klar, dass da eine Unterbrechung im Schreibfluss schnell als Gesprächsabbruch aufgefasst werden kann.

Gerade die Kürze macht es aus, dass beim gegenseitigen Schreiben der Eindruck synchroner Kommunikation entsteht. Dementsprechend ist und war die Begrenzung einer Nachricht auf 160 Zeichen nie ein wirkliches Problem. Ein schneller Satz geht sich schon aus, wenn nicht, gibt es ja Abkürzungen. Außerdem kann man ja auch mehrere SMS schicken. Klar, ein umständliches MMS oder ein langes E-Mail kann da nicht mithalten. Sieht aus, als würde die Busstation noch weitere 20 Jahre Schreibtisch bleiben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.12.2012)

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