Walter Kirchschläger: "Die Kirche hat die Sprache verloren"

Walter Kirchschläger
Walter Kirchschläger(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Walter Kirchschläger, Bibelwissenschaftler und früherer Sekretär Kardinal Franz Königs, sieht großen Reformdruck. Die Spitzen der katholischen Kirche hätten diesbezüglich "die Augen zu gemacht".

In Ihrem neuen Buch sprechen Sie vom Ende des Kirchenwinters mit dem neuen Papst Franziskus. Wie sehr hat es Sie während der vergangenen Jahre gefröstelt?

Walter Kirchschläger: Es hat mich gefröstelt. Wenn man den Aufbruch nach dem Konzil miterlebt hat, musste man sehen, wie die Dinge stehen bleiben. Wenn man an Ökumene, notwendige Strukturreformen der Kirche, an die vom Konzil angedachte Weiterentwicklung der Lehre denkt, da ist vieles stehen geblieben. Als Universitätslehrer habe ich den noch weiter wachsenden Zentralismus unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. sehr stark gespürt. Das ist schon eine fröstelnde Erfahrung gewesen.

Johannes Paul II. wird ja am Sonntag nach Ostern gleichzeitig mit Johannes XXIII. heiliggesprochen. Erfolgt der Schritt zu rasch?

Johannes Paul II. hat die Kirche mit einer sehr rigorosen Hand geleitet. Nach außen hat er das Einfühlsame, das wir an Bischof Franziskus so stark miterleben, vermissen lassen.


Dabei ist Johannes Paul II., wie auch der erwartete Pilgeransturm zeigt, sehr beliebt.

Die Kombination dieser beiden Heiligsprechungen ist ein taktisch kluger Zug, um Kritik hintanzuhalten. Ob die Heiligsprechung von Johannes Paul II. unbedingt sein muss, wäre schon zu hinterfragen. Wer miterlebt hat, dass die Kurie mit oder ohne ihn ein sehr zentralistisches Spiel getrieben hat, der zweifelt nicht am Gelingen seines Lebens. Aber er fragt nach der Vorbildhaftigkeit.


Woher kommt denn dann diese Beliebtheit?

Ich kann mich mit meiner Begeisterung zurückhalten.

Kardinal Franz König, dessen Sekretär Sie waren, gilt als einer der Weichensteller für die Wahl von Johannes Paul II. Hat er diese Entscheidung später jemals bereut?

Ob Kardinal König enttäuscht war, kann ich nicht sagen. In dieses anfangs sehr gute Verhältnis ist eine Abkühlung eingetreten 1986, bei der Nachfolge in Wien. Der Kardinal hat von Frau Doktor Plechl (damals stellvertretende Chefredakteurin der „Presse“) erfahren, wer Erzbischof von Wien wird. Der gesamte Komplex der Nachfolge hat den Kardinal wirklich sehr getroffen. Dass König dann Groër konsekriert (geweiht, Anm,) hat, war ein Akt des Versuchs, nicht mehr Feuer ins Öl zu gießen. Er hat offenbar mit sich gerungen, ob er das tun soll. Später ist Kardinal König immer mehr abgerückt vom zentralistischen Kirchenkurs.



Was sind für Sie die größten Versäumnisse der jüngeren Kirchengeschichte?

Petrus war unbestreitbar eine Führungsperson, aber er hat immer als ein Mitglied des Zwölferkreises gesprochen. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Amtsverständnis so entwickelt, dass Papst und Bischöfe einander fast gegenüberstehen. Das ist eine Entwicklung, die man nicht gut heißen kann.

Dieses Amtsverständnis wird ja jetzt auch durch Franziskus revidiert.

Das wird offensichtlich revidiert, Schritt für Schritt. Der Theologe Hans Küng hat klug festgestellt, dass ein Ozeantanker nicht in kürzester Zeit auf einen neuen Kurs gebracht werden kann, weil sonst die Gefahr des Zerbrechens groß ist. Das Bild ist sehr real. Wenn alle Reformen verwirklicht werden, die sich angestaut haben, weil wir fünfzig Jahre lang die Augen verschlossen haben, dann hätten wir die Gefahr einer Kirchenspaltung. Weil so lange nichts passiert ist, besteht ungemeiner Handlungsdruck und Handlungsbedarf.

Die Frage ist, wie viel Zeit Franziskus und der Kirche bleiben.

Parallel mit dem Reformstau ist auch die Ungeduld der Menschen gewachsen. Es ist im 21. Jahrhundert eine Frage der intellektuellen Redlichkeit und Glaubwürdigkeit, dass Argumente ausgetauscht werden und dass weitergedacht wird und keine Redeverbote erteilt werden, wie das Johannes Paul II. bei der Frage der Frauenordination versucht hat. Das ist kein Führungsstil.

Wäre nicht ein erster Reformschritt das Diakonat für Frauen?

Wir müssen in der Kirchenstruktur einen Paradigmenwechsel vornehmen. Wir haben das dreigestaltige Weiheamt mit Diakon, Priester und Bischof. In der Seelsorge gibt es aber viele andere Dienstformen, die so qualifiziert sind, dass es sinnvoll ist, sie durch Gebet und Handauflegung, also Weihe, zu übertragen. Es sollte also gelingen, diese Dreigestaltigkeit zu einer Vielgestaltigkeit zu machen, auch regional unterschiedlich, den Bedürfnissen der Ortskirchen entsprechend. Die Kirche ist kein multilateraler Konzern. Katholisch zu sein heißt nicht globalisiert, sondern weltweit vernetzt zu sein. Katholisch heißt nicht gleich zu sein überall auf der Welt. Wir sprechen nicht gleich, wir denken nicht gleich.

Der Titel Ihres neuen Buches lautet „Christus im Mittelpunkt“. Müsste das für Christen und die Kirche nicht eine Selbstverständlichkeit sein?

Wenn wir diese Selbstverständlichkeit genauer ansehen, merken wir, dass sie doch nicht so präsent ist. Wenn es beim Glaubensprozess um einen menschlichen Beziehungsweg geht, dann können wir alle noch etwas nachlegen. Wenn ich Glauben nicht nur als das Richtig-Halten von Sentenzen und von Katechismusnummern ansehe, sondern zu dem zurückgehe, was mich die Bibel lehrt: dass Glauben der Begegnungs-Prozess mit dem Gott ist, der sich mir zuwendet, eine Erfahrung, die mir Menschen bezeugen. Wenn ich meine, es reicht, sich an die zehn Gebote zu halten, dann sage ich Jein. Der biblische Befund sagt, Christ-Sein heißt Nachfolge leben, sich orientieren an Jesus Christus. Da habe ich seit einem Jahr einen Bischof von Rom, der zeigt, wie das gehen könnte.



Wo gibt es denn in einer weitgehend säkularisierten Welt Menschen, die, wie Sie sagen, Gotteserfahrung bezeugen?

Ich möchte nicht einer Entwicklung das Wort reden, wo an jeder Ecke jemand steht und sagt: Ich habe Gott gesehen. Wir kennen Menschen, deren Lebensstil zu denken gibt. Für mich war das Kardinal König und mein Vater. Und in Rom sitzt jetzt auch so einer.

Wird Franziskus nicht mit einer beinahe schon Heilserwartung überfrachtet?

Ja, aber mit dem Tag seiner Wahl hat sich etwas gewandelt: von der Hoffnung, dass etwas anders wird, zum beginnenden Prozess, dass es anders wird.

Wie erkennbar leben Christen in einer Stadt wie Wien mit einem Katholikenanteil von unter 40 Prozent?

Es gibt kein Patentrezept. Es ist eine engagierte christliche Präsenz, eine missionarische Präsenz. Das heißt nicht, dass ich predigen gehe, sondern dass ich mich darauf besinne, was prägend gewesen ist im Leben und im Wirken Jesu. Noch bevor ich zu handeln beginne, begreife ich Jesus Christus als Leitfigur. Biblisch müsste ich sagen: Wir bekennen uns zu dem Herrn in unserem Leben, den Kyrios, wie es griechisch heißt. Das klingt heute seltsam. Aber wir müssen bedenken, woher das kommt. Der römische Kaiser wurde als solch ein Herr bezeichnet, der über das Leben bestimmt. Und diese Bezeichnung wurde für diesen Rabbi aus Nazareth beansprucht.

Warum gelingt es nicht, diese Sprache, auch die der liturgischen Texte, in die heutige Zeit zu übersetzen?

Sie haben völlig recht. Weil wir meinen, die Weitergabe starrer Formeln wäre Teil unserer Tradition. Das wäre das Anliegen, das Johannes XXIII. mit dem Stichwort Aggiornamento verbunden hat, und das ein Prozess ist, der nicht auf das Konzil beschränkt ist, der immer wieder neu angestoßen werden muss. Geschehen ist in den letzten Jahrzehnten nichts.

Man hat den Eindruck, die Kirche hätte die Sprache verloren.

Ja, die Kirche hat die Sprache verloren.

Das macht mich jetzt sprachlos, dass Sie mir recht geben.

Die Kirche hat die Sprache verloren, mit der sie die heutigen Menschen erreicht. Wir haben die Sprache verloren, sprechen aber zu viel. Die Kirche müsste in Zukunft eine mehr handelnde Kirche sein, die weniger spricht. Wir sind auch in der Liturgie unglaublich wortlastig geworden, haben in Europa die Wachheit für Symbole verloren. Wir müssen den Menschen mehr zuhören. Wir müssen nicht meinen, in allem eine Kompetenz zu haben. Schon gar nicht dürfen wir meinen, dass wir eine Kompetenz haben, für die Gesellschaft zu sprechen. Die Zeit, in der die Kirche in Österreich für die Gesellschaft in Österreich spricht, ist Vergangenheit.


Herr Kirchschläger, darf man Sie auch fragen...

1... ob es Sie nicht langsam nervt, immer wieder als Sohn des verstorbenen Bundespräsidenten angesprochen zu werden?
Nein. Ich habe deswegen in meinem Leben nie eine Krise gehabt, weil mein Vater für mich immer eine Leitfigur war.

2... ob Kardinal Franz König aus Ihrer Sicht als früherer Sekretär Kandidat einer Seligsprechung wäre?
Er wäre ein Kandidat. Aber ich erachte das nicht als notwendig. Er ist auch so Vorbild genug.

3... ob ein Austritt aus der katholischen Kirche für Sie jemals eine Option gewesen ist?
Nein, das ist keine Option gewesen. Ich möchte in dieser Kirche etwas verändern, habe bestimmte Vorstellungen dazu, und das kann ich nur tun, wenn ich drinnen bin.

Steckbrief

1947
in Niederösterreich als zweites Kind von Herma und Rudolf Kirchschläger, der damals Richter, später parteiloser Außenminister und Bundespräsident (1974–86) war, geboren.

1970–1973
Noch während des Studiums an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom machte ihn Kardinal Franz König zu seinem Sekretär.

1972–1979
Universitätsassistent für Neues Testament in Wien.

1980–1982
Leiter der Wiener Theologischen Kurse.

1982–2012
Professor für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Luzern.

2014
Buchautor: „Christus im Mittelpunkt“, soeben im Styria-Verlag erschienen (216 S., 19,99 Euro).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.05.2014)

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