Rudolf Taschner: "Die Physik, die ist wirklich spekulativ"

„Man muss für Mathematik nicht so viel lernen, man muss sie nur verstehen“, sagt Rudolf Taschner.
„Man muss für Mathematik nicht so viel lernen, man muss sie nur verstehen“, sagt Rudolf Taschner.(c) Stanislav Jenis
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Der Wiener Mathematiker Rudolf Taschner hat ein grenzüberschreitendes Buch geschrieben: „Woran glauben. 10 Angebote für aufgeklärte Menschen“. Im Interview spricht er über Unschärfen in Naturwissenschaften und das Tröstende an Engeln.

Was machen Sie, wenn Sie in den Himmel schauen? Zählen Sie dann die Sterne, oder ergreift Sie ein Gefühl der Transzendenz?

Rudolf Taschner: Wenn ich die Sterne sehe, packt mich schon die Ehrfurcht. Man sieht zwar nur ein paar Tausend, und bei uns durch die vielen Lichter der Stadt ist selbst das kaum möglich, aber das Gefühl entsteht, es handle sich dabei um eine Unmenge. Und sofort sieht man Sternbilder. Was bedeuten sie? Vor allem, dass ich den Himmel in meinem Kopf neu entwerfe.

Solche Gedanken lassen auch die Frage zu: Warum schreibt ein Mathematiker ein Buch mit dem Titel „Woran glauben“?

Wenn ich jemanden sehr gut kenne, fällt es mir leicht, über den Glauben zu reden. Aber im öffentlichen Raum ist das nicht so leicht. Da zerfallen mir die Worte wie modrige Pilze auf der Zunge, wie Hugo von Hofmannsthal in seinem Chandos-Brief schreibt. Deshalb habe ich mich gefragt, was für Möglichkeiten es überhaupt gibt, sich im Glauben zurechtzufinden. Ich habe verschiedenste Arten davon behandelt, nicht als Gebote, sondern als Angebote.


Das erste Kapitel erörtert den Aberglauben, das abschließende zehnte „Ich und Du“ – ein Buchtitel des großen jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Ist es Zufall, dass die Zehn an den Dekalog erinnert?

Die Zehn ist nicht nur in der hebräischen Bibel, sondern auch bei Pythagoras wichtig, die Zahl der Allvollkommenheit, die auch in seiner Musiktheorie eine wesentliche Rolle spielt.

Die Glaubensarten sind sehr different. Mit welcher tun Sie sich denn am schwersten?

Über den Aberglauben war recht leicht zu schreiben, dem stehe ich mit einer gewissen Heiterkeit gegenüber. Wunderbar ist etwa die Anekdote mit dem Physiker Niels Bohr, über dessen Hauseingang ein Hufeisen hing. Darauf angesprochen, wie das mit seiner Skepsis zu vereinbaren sei, erwiderte Bohr, er habe sich sagen lassen, es wirke auch bei Menschen, die nicht daran glauben. Die meisten Probleme hatte ich bei dem Kapitel, in dem es um den Glauben an die Natur geht. Daran halten heute viele Menschen fest. Das macht mich besonders skeptisch.

Welches der zehn Gebiete, die Sie beim Verfassen Ihres Buches durchquert haben, war Ihnen am wenigsten vertraut?

Bei der Lektüre der Neurowissenschaften fand ich viel Neues. Im Grunde hat aber Ernst Mach alles vorweggenommen, als er meinte, das Ich sei unrettbar. Parallel gab es damals den Impressionismus in Kunst und Literatur. Ich glaube, dass die Neurowissenschaften der Philosophie nicht das geben werden, was sie behaupten. Das gilt im Übrigen auch für die Physik. Das Schöne an der Philosophie ist, dass man in ihr die Alten noch lesen kann. Platon bleibt auch nach 2400 Jahren aktuell. Von wie vielen 50 Jahre alten Büchern der Genetik kann man das behaupten?

Was bedeutet für Sie Agnostizismus?

Der normale Agnostiker lässt das Problem, ob es Gott gibt, offen, weil es für ihn nicht lösbar ist. Er legt es zur Seite. Ich lege es nicht zur Seite, weil ich ein Bedürfnis habe, zu dem, den ich nicht kenne, trotzdem in eine Beziehung zu treten. Durch das Gebet. Gottesbeweise sind doch uninteressant, so wie die Idee, er sei bloß eine Erfindung. Es kommt auf die Begegnung an. Gottesferne ist noch schlimmer als die Behauptung, Gott sei tot. Das war doch ein existenzieller Rettungsversuch des Philosophen Friedrich Nietzsche. Natürlich besaß er eine tiefe Gläubigkeit, sonst hieße es bei ihm doch nicht, Gott müsse tot sein, in dieser verdammten Welt.

Das klingt nicht nach Sicherheit. Von der Mathematik könnte man naiv glauben, sie sei etwas Sicheres. Aber ist nicht auch diese Wissenschaft höchst spekulativ?

Natürlich, das hat Kurt Gödel doch gezeigt. Die Mathematik beginnt mit dem ganz Sicheren. Wer würde in der Arithmetik leugnen, dass sechs mal sieben 42 ergibt? Aber man muss über die Arithmetik hinausschauen. Da eröffnen sich zwei Wege. Der leichtere ist, dass ich Axiome aufstelle, die logisch gut fundiert sind. Das hat auch Gödel beschrieben. Er zeigt aber zudem, dass man beweisen kann, dass man nicht beweisen kann, dass sie konsistent sind. Mathematik ist also gar nicht so sicher. Der schwere Weg nimmt das Unendliche von seiner Bedeutung ernst, und dem bin ich verfallen.

Wie sind Sie zur Mathematik gekommen?

Angefangen habe ich das Studium der Naturwissenschaften mit der faustischen Sehnsucht zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Damals hatte man in der Schule noch den paradiesischen Freiraum, über Gott und die Welt nachzudenken. Uns standen alle Möglichkeiten offen. Für mich war Heinz Haber prägend, der Mitbegründer der Zeitschrift „Bild der Wissenschaft“. Er hat die Naturwissenschaften im Fernsehen höchst anschaulich präsentiert, er war ein großer Geschichtenerzähler. Das hat er von Walt Disney gelernt. Ich nahm mir vor, erst einmal Physik und Mathematik zu studieren, um später zur Philosophie überzugehen. Das hat Heisenberg übrigens Weizsäcker vorgeschlagen. Ich hatte hervorragende Lehrer an der Universität. Die Physik war mir dann zu schwer, die ist wirklich spekulativ. Den Physiker Walter Thirring habe ich damals nicht verstanden. Ich habe mich bei den Mathematikern mehr zu Hause gefühlt, bei Johann Cigler etwa und bei Edmund Hlawka. Der hat vor dem Unendlichen viel mehr Respekt gehabt als die anderen.

Was macht ein Mathematiker den ganzen Tag? Muss man in diesem Job hart arbeiten?

Aber gar nicht! Man muss für Mathematik nicht so viel lernen, man muss sie nur verstehen. Wenn man forscht, hat man vor sich ein Problem und nicht viel mehr. Die Mathematik sei die zweitbilligste Wissenschaft, heißt es in einem Witz, man brauche dazu nur Papier, Bleistift und einen Papierkorb. Billiger ist nur die Philosophie. Denn die braucht keinen Papierkorb.

Was waren die schönen intellektuellen Begegnungen bei der Arbeit an diesem Buch?

Ich habe Walter Benjamin zuvor kaum gekannt, er ist ein höchst interessanter Autor. Als eine Illustration habe ich die Zeichnung „Angelus novus“ von Paul Klee genommen, die für Benjamin so wichtig war, er hat das Bild 1921 erworben und bezog einige seiner Schriften auf diesen Neuen oder Jungen Engel, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen. Auch Thomas Macho beendet seine „Todesmetaphern“ mit dieser Figur. Engel sind uns näher als der unnahbare Gott.

Wo war Gott am Allerheiligentag 1755, lautet die Frage von Zweiflern, die das verheerende Erdbeben in Lissabon erschüttert . . .

Ich weiß es wirklich nicht. Manche meinen, er schläft am siebenten Tag der Schöpfung, denn, wenn er das alles sähe, würde er es nicht aushalten. Den Menschen bleibt als Lösung, mit Gott zu hadern, weil sie sich verlassen fühlen wie Jesus am Kreuz. Zu erklären, es gibt ihn nicht, ist einfach eine Ausrede. Das nimmt der Schärfe dieser Frage doch den ganzen Gehalt. Sie ist wirklich subtil und kann nur gestellt werden, wenn man davon ausgeht, dass es eine Nähe oder Ferne Gottes gibt. Eine simple Abwesenheit wäre absurd.

Lassen wir die Gottesbeweise und fragen stattdessen: Gibt es Engel?

Man könnte fragen, was bleibt, wenn alles zusammenbricht, wenn zum Beispiel eine Mutter sieht, dass ein Kind gestorben ist. Da hat für mich das Bild eines Engels Trost, selbst wenn es dogmatisch ein völlig falsches Bild ist.

Ihr Buch betont das Zielgerichtete, Lineare am Glauben, das offenbar die westlichen Kulturen dominiert. Was bedeuten Ihnen dagegen zyklische, östliche Denkmuster?

Ich kenne das zu wenig. Erwin Schrödinger hat sich mit der Einheit des Bewusstseins beschäftigt. Diese Art von Transzendenz wurde von einem östlichen Denker wie ein Banyam-Baum mit seinen vielen Luftwurzeln beschrieben. Das hat Schrödinger übernommen.

Gehen Sie gern in Kirchen?

Natürlich! Am liebsten, wenn sie leer sind. Ich glaube an die Aura gewisser Orte. Sie haben besondere Kraft. Das verspüre ich sogar in machen Hörsälen.

Mathematiker gelten als hartnäckig, doch viele Rätsel sind schwer zu lösen. Besteht da nicht stets Gefahr, verrückt zu werden?

Auf jeden Fall. Für Menschen, die diesen fürchterlichen Ehrgeiz entwickeln, ist das eine reale Gefahr. Für die sogenannten Problemlöser kann die Mathematik lebensbedrohlich werden. Ich kenne vertrackte Fälle, die zu Herzinfarkten führten. Es gibt wirklich tragische Beispiele. Gott sei Dank bin ich nicht derartig veranlagt! Ich versuche lieber, eine Brücke zwischen den Wissenschaften zu schlagen.

Herr Taschner, darf man Sie auch fragen,...


1. . . ob Ihnen das Unendliche, mit dem Sie täglich umgehen müssen, auch Angst macht?

Ja. Ich habe mehr Angst als viele Mathematiker, die glauben, es gezähmt zu haben. Das Unendliche ist nicht zähmbar. Es ist ein Grenzbegriff. Noch stärker aber als die Angst beschreibt die Ehrfurcht meine Beziehung zu ihm.


2. . . ob sich bei Ihrem Denken Logik und Religion überhaupt vereinbaren lassen?

Die Logik nähert sich dem Unendlichen nur im Sinne der Mathematik. Sie ist dafür eine Leiter. Sobald ich mich dem Unendlichen im Sinne des Existentiellen nähere, werfe ich diese Leiter weg.


3. . . ob Sie als Fachmann Verständnis für mathematische Schwächen haben?

Natürlich! Ich habe doch selbst solche Schwächen und bin auch keine Sonderbegabung. Aber ich war zumindest ein guter Nachhilfelehrer, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie es anderen mit diesen Schwächen geht.

Steckbrief

30. 3. 1953
Rudolf Taschner wird in Ternitz geboren. Er studiert an der Universität Wien Mathematik und Physik, promoviert 1976 sub auspiciis und arbeitet seit 1977 an der Technischen Universität Wien am Institut für Analysis u. Scientific Computing. Für math.space. wurde er 2004 zum Wissenschaftler des Jahres gewählt. In der „Presse“ schreibt Taschner seit 2006 Kommentare für die Rubrik „Quergeschrieben“.

Ab 3. 10. erhältlich
Rudolf Taschner: „Woran glauben“ Brandstätter Verlag 2016, 272 Seiten, gebunden € 24,90, E-Book € 19,99.

13. Oktober 2016
Das Buch wird von Verlag und Autor vorgestellt: Bei Frick am Graben, 19 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2016)

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