Kolumbiens „Herr der Bücher“: Bildungsschätze aus dem Müll

Das Ziel: eine Bibliothek für Kinder ohne Schulbildung
Das Ziel: eine Bibliothek für Kinder ohne SchulbildungDie Presse
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José Alberto Gutiérrez fischte als Müllmann in Bogotá tausende Bücher aus der Tonne und baute damit eine Bibliothek für Kinder ohne Schulbildung auf.

Das erste Buch hat er, streng genommen, nicht gefunden, sondern gestohlen: Seit er acht Jahre alt war, begleitete José Alberto Gutiérrez seinen Vater bei dessen Arbeit, verrichtete leichte Handwerkerjobs, half ihm beim Ausmalen fremder Häuser in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá. In einem solchen fiel ihm eines Tages ein Buch auf. Es war Viktor Frankls „...trotzdem Ja zum Leben sagen“, das in spanischer Übersetzung herum lag. Es faszinierte ihn sofort. Er „lieh“ sich das Buch aus, zurückgebracht hat er es nie. „Ich glaube, dass das Universum das Buch für mich reserviert hatte“, sagt er heute, 54 Jahre alt, beim Espressotrinken in einem Wiener Café. „Meine Kindheit war hart, auch traurig, es gab viel Armut. Das Buch handelt davon, dass alles im Leben, auch das Leiden, einen Sinn hat. Seitdem habe ich vieles mit anderen Augen gesehen.“

Von der sinnstiftenden Funktion von Büchern kann Gutiérrez, der für den Internationalen Bibliothekskongress des Büchereiverbandes nach Österreich kam, viele Geschichten erzählen. Seit gut zwanzig Jahren ist Literatur sein Mittel der Wahl, um in den armen Vierteln Bogotás, in den Dörfern entlang der Karibikküste und entlang des Río Magdalena – also praktisch im ganzen Norden Kolumbiens – Gutes zu tun. Am Anfang seines Engagements stand Leo Tolstois „Anna Karenina“: Als Fahrer der städtischen Müllabfuhr in Bogotá zog er es aus einem Karton voller weggeworfener Bücher. Entsetzt, dass sich jemand dieses literarischen Juwels derart unwürdig entledigt hatte, packte er das Werk ein. Bald fand er überall auf seiner Müllroute Bücher und richtete im Erdgeschoß seines Hauses eine Bibliothek ein, mittlerweile bekommt er kistenweise Buchspenden, rund 30.000 Bände hat er auf diese Art schon gesammelt.

Schulpflicht nur bis zehn

Vor allem Kindern mit wenig Bildungschancen hat er damit ein Geschenk gemacht. Sein Bezirk im Süden Bogotás ist einer der ärmsten der Stadt. Viele alleinerziehende Mütter kämpfen dort um ein Auskommen, die Kinder spielen auf der Straße, die Schulpflicht gilt nur bis zum Ende der Volksschule, Geld für Bücher gibt es kaum. So habe seine Bibliothek den Nachbarn nicht nur Hoffnung, sondern konkrete Hilfe gegeben: Schulbücher, Vorlesestunden für die Kleinsten, Lektüre zur Allgemeinbildung. „Die Macht der Worte“ nennt sich seine Institution. Stolz erzählt Gutiérrez von einem Buchklub von rund 40 Personen ohne viel Schulerfahrung, die sich regelmäßig bei ihm zum Lesen trafen und mit ihrem heutigen Wissensstand eine Universität besuchen könnten.

Will mit Literatur Kolumbien „retten“: Bücherfan José Alberto Gutiérrez.
Will mit Literatur Kolumbien „retten“: Bücherfan José Alberto Gutiérrez. (c) Clemens Fabry (Presse)

Kann allein der Zugang zu Literatur den Bildungsstand in ärmeren Gegenden verbessern? Gutiérrez glaubt daran – man müsse die Kinder dafür aber früh genug begeistern. „Alles, womit man ihre Festplatten füllt, bevor sie zehn Jahre alt sind, bleibt gespeichert“, sagt er. Auch ihn habe die Liebe zur Literatur schon in jungen Jahren gepackt. Mit 13 las er, der die Volksschule nur bis zur zweiten Klasse besucht hatte, die „Odyssee“, im Vorjahr holte er die Matura nach. Und so, wie Odysseus sich nach Penelope sehnt, wünscht er sich, Kolumbien zu „retten“.

Dostojewski und Harry Potter

Keine Irrfahrten, aber doch ausgedehnte Reisen nimmt er dafür in Kauf. Mit einem Bücherbus fährt er durchs Land und, via Fähre, übers Wasser, wo die Kinder am Ufer schon auf seine Bücher warten würden. Am beliebtesten seien der „Kleine Prinz“, Jostein Gaarders „Sofies Welt“ und Dostojewskis „Schuld und Sühne“, auch Pageturner wie „Harry Potter“, „Herr der Ringe“ und Agatha Christie kämen gut an. Unter den Schätzen, die er im Müll fand, sind aber auch wertvolle Antiquitäten – er erinnert sich an ein Werk mit biblischen Bildern, dazu Texten in lateinischer und spanischer Schrift, mit Seiten, die sich anfühlen wie Pergament. Im Müll sucht er seit heuer nicht mehr, der Betrieb wurde im Februar geschlossen, seitdem widmet er sich ganz seinen Hilfsprojekten. Vom Bürgermeister wurde er nach 25 Jahren als Müllmann persönlich verabschiedet: als „Herr der Bücher“.

ZUR PERSON

José Alberto Gutiérrez (54) wurde in Bogotá geboren und wuchs in armen Verhältnissen auf. Die Schule verließ er nach zwei Jahren, seine Mutter weckte aber die Leselust in ihm. Vor 25 Jahren heuerte er als Fahrer bei der Müllabfuhr an, wo ihm auffiel, wie viele Bücher – nicht nur in reichen Gegenden – weggeworfen werden. Rund 30.000 hat er seitdem gesammelt und Kindern aus bildungsarmen Familien zur Verfügung gestellt. Beim Bibliothekskongress des Büchereiverbandes Österreichs erzählte er vergangene Woche von seiner Arbeit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2018)

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