Mit neun Fingern in der Big Wall

Kletterlegenden Tommy Caldwell (l.) und Kevin Jorgeson am Wiener Funkhaus.
Kletterlegenden Tommy Caldwell (l.) und Kevin Jorgeson am Wiener Funkhaus.(c) Mirjam Reither
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Tommy Caldwell und Kevin Jorgeson erklären, wie sie Klettergeschichte schrieben – und was Islamisten und ein abgesägter Finger damit zu tun haben.

Irgendwann kam dieser Anruf der „New York Times“. In der Wand hängend telefonierte Tommy Caldwell mit dem Journalisten. Ab da schien nicht nur die Kletterszene, sondern auch der Rest der Welt den Atem anzuhalten: Alle beobachteten, was sich da auf El Capitan im kalifornischen Kletter-Mekka Yosemite zutrug.

„The Dawn Wall“, im deutschen Titel „Durch die Wand“, heißt der Film, der nun nacherzählt, wie Tommy Caldwell und Kevin Jorgeson vor drei Jahren die schwierigste und steilste Route mitten durch die 1000 Meter hohe, glatte Granitwand kletterten. Frei, ohne Hilfsmittel, nur an ihren Fingerspitzen hängend. In Caldwells Fall: An neun Fingern hängend. Einen Zeigefinger hatte er sich ein paar Jahre zuvor versehentlich mit einer Säge amputiert. Sein Arzt sagte, er würde nie wieder klettern – Caldwell brachte es sich einfach neu bei. Nicht die erste Widrigkeit seines Lebens. Im Jahr 2000 war er gemeinsam mit Klettergefährten in Kirgisistan von Islamisten entführt worden. Rückblickend sieht er die Erfahrung auch positiv. „Sechs Tage lang zu denken, dass man sterben wird, macht das Leben wertvoller.“

Es reicht freilich nicht als alleiniger Kitt einer Beziehung. Als sich Caldwell und seine einst mit ihm gefangene Kletterpartnerin scheiden lassen, stürzt er sich in das Projekt der Dawn Wall. Zunächst dreht er dort mit einem befreundeten Filmemacher nur Videos einzelner Kletterszenen, „um den Leuten zu zeigen, wie die Zukunft des Big-Wall-Freeclimbings aussehen würde.“ Dieses Video sieht Kevin Jorgeson. Er ist der einzige Kletterer, der bereit ist, Caldwells Vision zu teilen – und ausgerechnet ein Boulder-Experte, der sich beim Klettern kaum mehr als ein paar Meter vom Erdboden entfernt.

Zukunft des Kletterns

In Wien, zum Auftakt der europäischen Filmpremierentour, sind die beiden zum ersten Mal seit Langem wieder miteinander unterwegs. Zum Scherzen aufgelegt, klettern sie fürs Foto am Funkhaus in die Höhe. Caldwells Klettern, erinnert sich Jorgeson im Gespräch an besagtes Video, habe „richtig futuristisch“ ausgesehen. „Ich war auf der Suche nach einer neuen Disziplin. Und Tommys Video rief praktisch die Zukunft aus: Du willst sie? Komm und hol sie dir!“

Sechs Jahre lang tüfteln die beiden, klettern einzelne Etappen – und fragen sich dabei die ganze Zeit: „Ist das verrückt? Vergeuden wir unsere Zeit? Ist das überhaupt möglich?“ Ihn reize immer das, „was noch niemand zuvor gemacht hat“, sagt Jorgeson. „Und ich liebe das Puzzle. Den nicht physischen Aspekt des Kletterns. Die Logistik. Zu lernen, wie man in der Wand lebt. Dazu kommt die Neugier: Geht es überhaupt? Und wenn ja: Können wir es?“ Der Umstieg vom Bouldern zum Big-Wall-Klettern sei durchaus „rau“ gewesen. „Man muss sich neu erfinden, dein altes Selbst muss sterben. Deine Identität, das, worin du gut bist. Das tut weh. Es muss okay sein, eine ziemlich lange Zeit wieder nicht gut zu sein.“

Caldwell selbst erinnert das Vorhaben an ein wissenschaftliches Experiment „mit vielen Sackgassen. Wir mussten viel lernen.“ Doch gerade das gefällt ihm. Schon von Klein auf ist der Sohn eines kletternden Bodybuilder-Übervaters auf der Suche nach selbst gewählter Härte. „Sie macht einen lebendig.“ Als die Not dann unvorhergesehen in sein Leben gebrochen sei, „hatte ich diesen Mechanismus: Es hat mich munterer gemacht.“ In den Händen der Entführer in Kirgisistan verlor er zehn Kilo, war ständig an der Kippe zur Unterkühlung. „Mein Körper schaltete auf Überlebensmodus. Nach sechs Tagen ohne Essen war ich unglaublich wach.“ Seither sei er auf der Suche nach diesem Gefühl.

In der Dawn Wall – die bei Sonnenaufgang als erste vom Tageslicht angestrahlt wird – klettern die beiden oft nachts und bei eisiger Kälte (wegen der Griffigkeit), erleben Stürme, schlafen im Portaledge, einem künstlichen Felsvorsprung, den man einfach in die Wand hängt. Die mediale Aufmerksamkeit, die irgendwann einsetzt (just, als Jorgeson an einer Passage zu scheitern droht), blenden sie aus. Das war „unten im Tal“, sagt Caldwell. Mitunter habe er auch völlig auf die Objektive vergessen. „Ich bin in der Früh aufgewacht und habe einfach vom Portaledge gepinkelt – und erst dann festgestellt, wie viele Leute uns zuschauen.“

Dass er als „langsames“ Kind galt, ist schwer vorstellbar. Aber doch, er sei sogar sehr langsam gewesen, lacht der 40-Jährige. Doch das Klettern habe ihm eine neue Welt eröffnet. Tatsächlich sei es beliebt bei Kindern, „die sonst nirgends hineinpassen. Man braucht andere Fähigkeiten als beim traditionellen Sport oder in der Schule. Es ist langsam, verlangt eine andere Koordination. Auch tollpatschige Kinder können gute Kletterer sein.“

Auf einen Blick

Tommy Caldwell wurde 1978 in Colorado geboren und begann schon als Kind zu klettern. Im Jahr 2000 wurde er in Kirgistan von der Islamischen Turkestan-Partei entführt. Zwischen 27. Dezember 2014 und 14. Jänner 2015 gelang ihm mit Kevin Jorgeson die erste Durchkletterung der Dawn Wall am 1000 Meter hohen El Capitan-Felsen im Yosemite Nationalpark – frei, nur mit Händen und Füßen. Die Doku „Durch die Wand“ läuft ab 5. Oktober im Kino.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2018)

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