Jacintha Saldanha: Wen(n) die Scham tötet

(c) AP (Lefteris Pitarakis)
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Selbstmord nach „Queen-Hoax“: Frauen sind anfälliger, Migranten auch, aber wir alle fürchten sie: über die Scham, die eine britische Krankenschwester in den Tod trieb, und den Umgang mit einem zerstörerischen Gefühl.

Drei Tage hat sie es ausgehalten, dann – was dann? Hat sie in einem Verzweiflungsmoment eine Überdosis der leicht erreichbaren Tabletten geschluckt oder nach „reiflicher Überlegung“? Man weiß es nicht, wird es vielleicht nie wissen.

Man weiß nur, dass die 46-jährige Krankenschwester Jacintha Saldanha von Dienstagfrüh bis zu ihrem Tod jede Sekunde in dem Bewusstsein leben musste, dass ihre Stimme gerade überall im „globalen Dorf“ zu hören sein konnte: im Radio, Fernsehen, auf unzähligen Internet-Kanälen. Jacintha Saldanha konnte ihrer Stimme nicht entkommen, die wieder und wieder sagte: „Oh yes, just hold on ma'am“, gefolgt von Gelächtersalven. Nicht in England, und auch nicht in Indien, wo sie herkam. Mehrere Male hat die Krankenschwester nach Bekanntwerden des „Queen-Hoaxes“ noch bei ihren Verwandten in Indien angerufen (die davon noch nichts gehört hatten). Den Hoax erwähnte sie mit keinem Wort.

Ihre Stimme konnte nirgendwohin fliehen

Was ist wohl schlimmer, vor allen Dorfbewohnern leibhaftig am Schandpfahl zu stehen wie früher oder mit der eigenen Stimme am Pranger vor der Welt? Es gibt eine grenzenlose Scham, bei K. in Kafkas „Prozess“ ist sie so groß, „als sollte sie ihn überleben“.

Das hat die Mutter zweier Teenager mit ihrem Selbstmord verhindert. Niemand lacht mehr über sie, die Beschämer sind zu Beschämten geworden. Der Preis dafür war freilich der höchste, den sie zahlen konnte. „Der Schamerfüllte möchte die Welt zwingen, ihn nicht anzusehen“, schreibt Erik H. Erikson in seinem Buch „Kindheit und Gesellschaft“. „Er würde am liebsten die Augen aller anderen zerstören. Stattdessen muss er seine eigene Unsichtbarkeit wünschen.“

Frauen sind anfälliger für Scham, sagt die Psychologie, und gehen anders damit um als Männer. Männer reagieren eher aggressiv oder überspielend, Frauen ziehen sich zurück, richten die Aggressivität gegen sich. Das Ergebnis sind Depressionen als „verlängerte Scham“ bis zum Selbstmord, dem ultimativen In-den-Boden-Versinken. Gerade bei Menschen, die perfektionistisch sind, bestrebt, „alles richtig zu machen“, wie Saldanha beschrieben wird.

Als Selbstmörderin aus Scham hat Jacintha Saldanha berühmte Schwestern, auch wenn niemand sie buchstäblich vergewaltigt, niemand sie nackt gesehen hat. Die verheiratete Römerin Lucretia bringt sich um, nachdem sie von einem fremden Mann vergewaltigt wurde. Schnitzlers Fräulein Else nimmt Veronal, nachdem sie sich vor einer Abendgesellschaft nackt gezeigt hat.

In der Bibel kommt die Scham mit dem Sündenfall, als Bewusstsein der eigenen Nacktheit, und noch bei Freud ist die Bedeckung der Genitalien der Inbegriff der Scham. Heute ist das weniger nachvollziehbar, im Bereich der Sexualität verschieben sich die Schamgrenzen immer mehr nach hinten. In anderen Bereichen nicht. Je größer etwa der Zwang zum perfekten Körper, zum perfekten Funktionieren, desto größer die Scham, wenn man „versagt“.

1. Migrantengebot: „Nur nicht scheitern!“

Und es gibt Bevölkerungsgruppen, in denen sie eine besonders häufige Grunderfahrung darstellt – Migranten. Das hat etwa Maria Gorius in ihrem Buch „Scham und Beschämung in der Migrationsgesellschaft Deutschland“ gezeigt. Ob ihre Vergangenheit als Migrantin wohl Saldanhas tragisches Schicksal beeinflusst hat?
Merkwürdigerweise wurde diese Frage noch nicht gestellt.
Saldanha, die ihrem Aussehen nach (modischer Kurzhaarschnitt, helles Make-up) und mit ihrer beruflichen Hingabe offenbar trachtete, Europäerin zu sein, muss sich verstoßen gefühlt haben von einem Land, in dem sie seit einem Jahrzehnt anzukommen versuchte – auch sprachlich. Auf den Akzent der Radioleute fiel sie herein, dann  berichteten Medien noch vom angeblichen Zorn des Königshauses auf sie . . .

„Sie kommt aus dem südindischen Bundesstaat Karnataka, wo sehr viele junge Menschen ins Ausland gehen“, sagt Christiane Hartnack, die am Südasieninstitut der Uni Wien lehrt und an der Donau-Uni Krems den Fachbereich „Interkulturelle Studien“ leitet. „Die Leute leben zu einem großen Teil von dem, was Verwandte nach Hause schicken. Da herrscht unglaublicher Druck, viel Geld zu verdienen. Bloß nicht scheitern!“ Saldanhas Mann verdiente nicht viel. Was wäre gewesen, hätte sie den Job verloren?

Für „eine Kultur des Umgangs mit Scham“

Hartnack verweist auch auf den Zeitpunkt kurz vor Weihnachten. „Diese sehr christliche Familie flog offenbar aus finanziellen Gründen nur alle zwei Jahre nach Indien, und zwar zu Weihnachten. Heuer hätten sie in England bleiben müssen.“

Was immer letztlich den Ausschlag für diesen Selbstmord gab, die Ursache ist bekannt: ein gedankenloser journalistischer Spaß. Vielleicht führt Saldanhas Tod ja dazu, dass nicht nur (wenn auch vor allem) Medien, sondern die Gesellschaft mehr über die zerstörerische Wirkung von Scham nachdenkt. Eine längst überfällige Aufgabe, da sich mit dem Internet die Möglichkeiten der Beschämung potenziert haben.

Bei aller positiven Bedeutung als soziales Regulativ, die die Scham in kleinen Dosen auch hat: „Scham gehört zu den schmerzhaftesten Gefühlen, sie geht an den Kern unseres Daseins“, betont Sozialwissenschaftler Stephan Marks. „Trotzdem setzen sich viele Berufsgruppen, die täglich mit Scham zu tun haben, wie Sportlehrer oder Altenpfleger, nie damit auseinander. Der Autor von „Scham – die tabuisierte Emotion“ plädiert für bewussteren Umgang mit diesem Gefühl – „eine Kultur des Umgangs mit der Scham“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2012)

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