Die "Kernfamilie": Nur eine unter vielen

Kernfamilie eine unter vielen
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Das Zusammenleben von Geschlechtern und Generationen kann auf unterschiedlichste Weisen realisiert werden. Die Vielfalt an familiären Lebensformen ist keine moderne Erscheinung, es gab sie schon immer.

Damals war es nicht so, dass man einfach heiraten konnte“, erzählt eine oberösterreichische Bauerstochter dem Soziologen Roland Girtler. „Meinen Mann habe ich schon mit 18 Jahren kennengelernt, er war auch ein Bauernsohn, aber heiraten konnten wir noch nicht“, zitiert der Forscher in seinem kürzlich neu aufgelegten Buch „Aschenlauge“ (366 S., 24,9 €, Böhlau). Und: „Bereits vor der Hochzeit habe ich zwei Kinder von ihm geboren.“ Dabei sei es ihnen noch besser gegangen als dem Großteil der Menschen in ländlichen Regionen, die sich als Knechte oder Mägde verdingten, oft bei jährlich wechselnden Dienstherren: Diese Menschen, und das gilt auch für Städte, konnten häufig überhaupt nicht heiraten, weil sie keinen Besitz hatten, ihnen die notwendigen Papiere fehlten oder sie keine Heiratserlaubnis von Kirche oder Behörden bekamen. Viele Menschen blieben daher ledig, viele Frauen hatten uneheliche Kinder.

Solche Tatsachen stehen in einem Gegensatz zu jenem Bild, das viele von der angeblich „guten alten“ Zeit haben, in der Eheleute mit ihrer Kinderschar (die „Kernfamilie“) noch eine „heile“ Keimzelle der Gesellschaft gewesen seien. Eher war das Gegenteil der Fall: „Haus und Familie waren und sind in Europa von unüberbietbarer Vielfalt“, formuliert es etwa der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Reinhard Sieder (Uni Wien). In seinem Beitrag zu dem großartigen Buch „Globalgeschichte 1800–2000“ (588S., 29,9€, Böhlau) breitet er ein ganzes Panoptikum der Formen des Zusammenlebens von Geschlechtern und Generationen aus, die es in Europa und anderen Weltregionen gegeben hat und gibt (siehe auch Artikel rechts unten).

Bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs war demnach ein Drittel bis zur Hälfte der west-, nord- und südeuropäischen Bevölkerung über Jahrzehnte oder sogar das ganze Leben von der Heirat ausgeschlossen. Viele lebten als Gesinde auf Höfen oder bei Handwerkern, Mägde waren nicht selten „Konkubinen“ der Dienstherren (auch wenn dies verboten war). Zum Teil verheiratet waren „Inwohner“, die gegen Miete oder Arbeitsleistung einen Wohnraum oder ein Nebengebäude bewohnten. Die älteren Bewohner, die ihren Haushalt an die nächste Generation übergeben hatten, lebten im „Ausgedinge“.


Historische Diversität. Für die Geschichte der Familie ist ein Phänomen zentral, das John Hajnal 1965 „europäisches Heiratsmuster“ genannt hat. Europa war demnach seit dem 16.Jahrhundert entlang einer Linie von St.Petersburg bis Triest in zwei Regionen mit unterschiedlicher Familienstruktur geteilt. Der nord- und westeuropäische Typ ist durch vier Charakteristika gekennzeichnet: das Vorherrschen von „Kernfamilien“ – Eltern und Kinder unter einem Dach –, eine relativ späte Verehelichung (älter als 25Jahre), einen geringen Altersabstand zwischen den Ehepartner sowie das Vorhandensein von nicht blutsverwandten Dienstboten, Lehrlingen etc. im Haushalt. Heiraten und legitime Kinder bekommen konnten nur die ihren Vätern als Handwerker, Bauern, Kaufleute usw. nachfolgenden Söhne. Witwen und Witwer blieben unverheiratet.

Ganz anders in Ost- und Südeuropa, aber auch in alpinen Gegenden oder im französischen Languedoc: Dort heirateten praktisch alle Menschen in jüngeren Jahren, sie bekamen viele Kinder, bildeten aber keine eigenen Haushalte, sondern lebten unter einem Familienpatriarchen in großen und komplexen Haushalten zusammen, oft in mehreren nebeneinander liegenden Häusern. Verwitwete Menschen heirateten meist wieder rasch.

Diese typischen Strukturen – wobei es überall auch andere Lebensformen wie Kleinfamilien, Klostergemeinschaften oder als Alleinstehende gab – haben eine lange Geschichte. Bei den antiken Römern wurde mit „familia“ der gesamte Hausstand bezeichnet, also ein Mann mit Ehefrau und Kindern, mit Sklaven, Freigelassenen und Vieh; es handelte sich um eine Herrschafts-, keine Verwandtschaftsbezeichnung. Ganz anders war das bei den „Barbaren“: Die Germanen lebten in Sippen zusammen – in sozialen Gruppen blutsverwandter Personen, von denen eine das Oberhaupt war.

Auch im Mittelalter dominierte das Zusammenleben in größeren Wirtschaftsgemeinschaften. Eine einschneidende Veränderung bewirkte die Kirche: Die gregorianische Reform schuf ab dem elften Jahrhundert den Ehestand als reglementiertes Sakrament, die Ehe galt nur, wenn sie von Mann und Frau aus freiem Willen vor einem Priester geschlossen wurde. Das hatte Konsequenzen: Gefordert wurden Monogamie und Treue, das führte à la longue zu einer Abkehr von der Sippe, hin zu kleineren Einheiten.

Das europäische Heiratsmuster wurde durch Aufklärung, industrielle Revolution und den Aufstieg des Bürgertums grundlegend überformt. Ab dem letzten Drittel des 18.Jahrhunderts bildete sich aus städtischen Kaufleuten, Unternehmern oder höheren Beamten ein Bürgertum heraus, mit einer spezifischen Ausprägung der Familie im Gefolge: Das Familienleben sollte v.a. die beruflichen Interessen und die sozialen Netzwerke des Mannes unterstützen, Frauen hatten sich um den Haushalt und die Erziehung der Kinder zu kümmern.


Romantische Liebe. Als wesentliches Kennzeichen der bürgerlichen Familie sieht der Wiener Historiker Michel Mitterauer in der „Geschichte der Familie“ (750S., 25,6€, Kröner) die praktisch vollständige Trennung von Familie und Produktion an. Dadurch verloren die Familien ihre direkte Einbindung in die Öffentlichkeit des Wirtschaftslebens und wurden – erstmals – zur reinen Privatsphäre. Das häusliche Leben sollte auch die (romantische) Sehnsucht nach Liebe erfüllen – was stets in einem gewissen Widerspruch zur bürgerlichen Vernunft stand. „Das (klein-)bürgerliche Paar soll sich verstehen, hätte es sich doch infolge der weitgehenden Separierung seiner Arbeits- und Lebenswelten sonst nur wenig zu sagen“, merkt Sieder an. Der neue Lebensstil des Bürgertums wurde relativ rasch auch von kleinbürgerlichen Haushalten übernommen – von Gewerbetreibenden, Handwerkern, Kaufleuten oder niedrigen Beamten.


Wilde Ehen. Gleichzeitig zogen mit dem Wachstum der Industrie auch viele junge Menschen vom Land in die Städte, es entstanden „proletarische Milieus“. Durch die langen Arbeitszeiten, die niedrige Entlohnung und die akute Wohnungsnot waren stabile Familienverhältnisse nur sehr schwer zu erreichen. Viele Arbeiter und Arbeiterinnen lebten in „wilden“ Ehen, Kinder wurden häufig unehelich geboren und lebten vielfach ohne Betreuung auf der Straße. Mit der Zeit – und nach sozialen Verbesserungen – setzte sich aber auch bei Arbeitern das bürgerliche Familienmodell durch. Erziehung der Kinder wurde ein zunehmend wichtiger Wert, das Eheleben wurde intimer.

Was sich bei der „bürgerlichen Revolution“ gegenüber früheren Familienformen nicht veränderte: Der Vater blieb der alles dominierende „pater familias“. Das begann sich erst mit den beiden Weltkriegen zu ändern. Viele Männer waren an der Front gefallen, viele Ehen, die vor oder im Krieg übereilt eingegangen wurden, zerbrachen. Wenig überraschend stieg die Zahl der außerehelichen Geburten stark an. Aus den früheren „Kernfamilien“ wurden häufig „Mutter-Kind-Dyaden“, Frauen eroberten (oft gezwungenermaßen) die bestimmende Rolle in den Wirtschafts- und Lebensgemeinschaften.

Die Emanzipation der Frau in der Familie war in Europa unumkehrbar – auch wenn sich in der Nachkriegszeit erneut die bürgerliche Kleinfamilie aus Vater, Mutter und (meist zwei) Kindern als dominierende Lebensform etablierte. Die gestiegenen Bildungschancen für Frauen – sowohl auf dem Land als auch in der Stadt –, die zunehmende wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen, das Sinken des kirchlichen Einflusses sowie die Verbreitung von Verhütungsmitteln trugen dazu bei, dass Trennungen und Scheidungen leichter möglich wurden. Im Gefolge der 68er-Bewegung breiteten sich viele alternative Familienformen aus – seit den 1970er-Jahren vollziehen viele Staaten diesen Wandel auch in der Gesetzgebung nach: ein Prozess, der stets heftig umstritten war und ist.


Patchwork und Regenbogen.
Die größte Gruppe ist zwar weiterhin die „Kernfamilie“ – wobei der Anteil der nicht ehelichen Lebensgemeinschaften stark steigt. Die am stärksten wachsende Lebensform ist aber laut einer Studie des Österreichischen Instituts für Familienforschung der kinderlose Haushalt (Singles und Paare). Einen Zuwachs erleben auch „Patchwork-Familien“ – ein Überbegriff über ein Sammelsurium von Lebensgemeinschaften, in denen zwei Partner nach einer Trennung mit Kindern aus früheren Familien zusammenleben. Wie stark ihre Zahl zunimmt, weiß man nicht genau, weil diese Familienform erst seit 2007 statistisch erfasst wird und es zudem viele Übergangsbereiche zu anderen Lebensformen gibt – etwa zu (zumindest zeitweisen) Fern- oder Wochenendbeziehungen („living apart together“). Wachsend ist auch die Zahl der „Regenbogenfamilien“, in denen Kinder bei zwei gleichgeschlechtlichen Partnern leben. Auch die Zahl der alleinstehenden Menschen ist im Wachstum begriffen. Stabil bleibt hingegen zurzeit der Anteil der Ein-Eltern-Familien – in knapp 90 Prozent der Fälle sind das alleinerziehende Frauen.

„Formal gesehen wird die moderne bürgerliche Familie in der Postmoderne von einer Art Rückkehr zur vormodernen Familie abgelöst“, kommentiert der Freiburger Historiker Wolfgang Reinhard in seinem fulminanten Buch „Lebensformen Europas“ (718S., 25,6€, C.H. Beck). Einerseits im Hinblick auf die Formenvielfalt – „freilich von neuen Formen“. Andererseits konstatiert er eine Wiederkehr der Unbeständigkeit – allerdings aus anderen Gründen als früher: Früher blieben viele Menschen nach dem (oft frühen) Tod ihrer Partner allein, heute sind sie es vermehrt wegen Trennung bzw. Scheidung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.02.2013)

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