Rodolfo Paglialunga: „Perfektion führt zu Unbehagen“

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Rodolfo Paglialunga ist seit einem Jahr Kreativchef von Jil Sander: Ein Gespräch über Minimalismus und Menschlichkeit.

Ein paar Saisonen lang herrschte Unruhe im Hause Jil Sander: Nachdem ihr Nachfolger, Raf Simons, das Maison verlassen hatte und zu Dior nach Paris gegangen war, entwarf sie vorübergehend wieder selbst die Kollektionen des von ihr gegründeten Labels. Wegen der Erkrankung ihrer Lebensgefährtin zog sie sich bald aus dieser neuen alten Rolle zurück. Ihr Nachfolger ist seit zwei Saisonen der Italiener Rodolfo Paglialunga, der sich nun der Herausforderung zu stellen hat, Sanders sehr konzise Vision von minimalistischer Mode, die in den Neunzigerjahren entstand, in die Gegenwart zu übersetzen. Dem „Schaufenster“ verriet er in Mailand, wie das gelingen soll.

Ihre erste Kollektion für Jil Sander ist seit März in den Läden, Ihre Entwürfe für den kommenden Herbst stehen unter dem Motto „Ordine in Disordine“, Ordnung in Unordnung. Eine Abkehr von übertriebenem Purismus?
Wissen Sie, wenn von Minimalismus die Rede ist, und das ist bei Jil Sander unweigerlich der Fall, dann ist oft auch von Unberührbarkeit, vollkommener Perfektion die Rede. Dabei kann gerade übertriebene Perfektion leicht zu einem Gefühl des Unbehagens führen. Doch Irren ist bekanntermaßen menschlich. Die Idee war also, den Minimalismus mit etwas Menschlichem aufzuladen, ihn nahbarer zu machen. Und greifbar, weil das Minimalistische zumeist sehr abstrakt ist, konzeptuell bleibt. Darum wollte ich an eigentlich fast zeitlosen Kleidungsstücken arbeiten.


Das ist freilich ein Merkmal des minimalistisch Gestalteten: Es wirkt zeitlos, der Zeit enthoben.
Genau darum ging es mir. Jede einzelne Silhouette sollte im Grunde in zehn Jahren ebenso funktionieren können wie heute. Die klassische Anmutung bewirkt, dass ein Kleidungsstück der Mode enthoben ist. Das ist die eine Seite, auf der anderen ist es aber auch schwieriger, das Publikum mitzureißen, wenn man sich an diese „Classicità“, diesen klassischen Charakter, hält. Die großen Brüche finden da nur schwer Platz. Etwas sehr Einfaches zu machen, die Details richtig auszutarieren, etwas zu schaffen, das bei aller Normalität als etwas Ausgefallenes wirken kann – das ist die Herausforderung, der ich mich gestellt habe.


Die Herausforderung, von der Sie gesprochen haben, besteht also auch darin, einen neuen Minimalismusbegriff einzuführen, der mehr kreativen Spielraum zulässt. Handelt es sich also um eine Aktualisierung, eine Übersetzung des Minimalismusbegriffs der Neunziger ins Heute?
Ja, das meine ich, wenn ich sage, dass es um Normalität und Menschlichkeit gehen muss und ich die Grenzen des Möglichen auslote. Ein radikaler Vergleich: Heute gibt es High-Street-Marken, die minimalistisch gehaltene Mode vertreiben, und das zu sehr zugänglichen Preisen. Auch darum muss Jil Sander für etwas anderes stehen, ein neues, überraschendes Konzept von „Minimal“. Auch in diesem Rahmen gibt es Platz für Fantasie, für das Spiel mit Details, für eine opulentere Ästhetik. Wir zeigen zum Beispiel Lederapplikationen, die so fein gearbeitet sind, dass sie fast wie Stickereien anmuten. Schmucksteine oder Kristalle haben bei Jil Sander natürlich nichts verloren, aber auch da lote ich Grenzen aus, suche nach dem für uns passenden Verständnis von Stickerei, um die Ästhetik weiterzuentwickeln.

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Was halten Sie von dem Konzept des „Normcore“, das vor ein, zwei Saisonen durch die Medien geisterte? Ist das die Antwort der Gegenwart auf den Minimalismus der Neunzigerjahre?
Ich fand es unterhaltsam, als von Normcore die Rede war, und das hat mich im Grunde auch dazu gebracht, über Normalität, über den Begriff des Normalen in der Mode nachzudenken. Für mich bedeutet das, von Dingen auszugehen, deren Gestalt uns vertraut ist, die wir zu kennen glauben, aber dann eine Verarbeitung zu finden, die bei genauerem Hinsehen überrascht. Der Minimalismus der Neunzigerjahre ist in einer bestimmten Situation entstanden und hat viele Bereiche betroffen. Nach einer Phase des Überflusses sehnte man sich nach Erholung, nach einem Purifizieren.


Heute sprechen doch auch viele Menschen davon, dass es von allem ein Zuviel gibt.
Das ist auf jeden Fall so, und ich habe den Eindruck, dass der Minimalismus der Neunziger bewusster gesteuert war, dass es sich damals um einen neuen Lifestyle handelte. Man ging nicht mehr in Clubs, sondern blieb zu Hause und lud Freunde zum Abendessen ein. Davor war das anders. Heute hingegen sehe ich viel Verwirrung, die Welt ist näher zusammengerückt, aber man lebt an verschiedenen Orten mit verschiedenen Geschwindigkeiten. Eine schwarze Hose zu einem schwarzen Mantel, das hat vielleicht als minimalistisches Statement in den Neunzigern funktioniert, heute ist das zu wenig. Denn es geht den Konsumenten heute nicht mehr darum, etwas zu kaufen, weil sie es brauchen, sondern sie erwarten vom Einkaufen auch einen emotionalen Kick.


Wie konstruiert man aber heute eine Kollektion? An welchen Kunden denkt man, um wessen Emotionen geht es da, wenn man eine Kundin in Deutschland ebenso wie eine in Ostasien bedienen möchte?
Es mag stimmen, dass wir an ganz unterschiedlichen Plätzen präsent sind, aber die Erwartungen an Mode sind doch überall ungefähr dieselben: Alle suchen nach dem Besonderen, nach der besonders guten Verarbeitung, herausragender Qualität, weil es nicht mehr um Bedürfnisabdeckung geht, schon gar nicht im Luxussektor.


Das Angebot in der Mode ist so groß, so vieles existiert gleichzeitig, dass das tradierte Verständnis von Trends fast überholt anmutet. Umso wichtiger wird die sogenannte DNA einer Modemarke, die den Stammkunden vermittelt: Ich gehe zu Jil Sander, weil ich eine Sander-Kundin bin. Sehen Sie das auch so?
Natürlich, es gehört mehr denn je zu unserer Arbeit, die Markenidentität so genau wie möglich zu definieren. Auch für mich ist das so, und Jil Sander hat als Label ja eine sehr präzise, starke Identität, weil die Firmengeschichte noch nicht sehr lang ist und es sehr markante Eckpunkte gibt, an denen man sich orientieren kann.


Die Marke Jil Sander ist in Hamburg entstanden, wird von vielen als Aushängeschild der deutschen Mode im Ausland gesehen. Ist dieses Substrat des Deutschen, eine „Germanicità“, wie man in Italien sagen würde, aber überhaupt noch vorhanden?
Natürlich ist Jil Sander eine ursprünglich deutsche Marke, aber ich denke, in der Modewelt, wie sie sich heute darstellt, gibt es keine nationalen Zuordnungen einzelner Brands mehr. Darum hoffe ich auch, dass Jil Sander unabhängig von ihrer Geschichte oder meiner Nationalität als eine internationale Marke wahrgenommen wird.


Kennen Sie Hamburg persönlich?
Hamburg ist eine wunderschöne Stadt und auch eine sehr schicke Stadt. Die Hamburgerinnen haben großes Stilbewusstsein, und sie verstehen sich auf Understatement.


Genau dieses Understatement verbindet man auch mit Jil Sander, in jeder Hinsicht. Darum bietet sich auch der Red Carpet bei den Oscars nicht unbedingt als Spielwiese für die Markenkommunikation an, würde ich meinen . . .
Es handelt sich in der Tat nicht um unser wichtigstes Ziel; wenn einmal jemand Jil Sander bei so einem Glamour-Event trägt, freuen wir uns umso mehr. Aber diese Red-Carpet-Auftritte haben doch etwas Bizarres, mich erinnert das manchmal an einen Supermarkt der Superstars. Alle müssen dort auftreten, und alle leben in der dauernden Panik, dass etwas passieren könnte, sie durch einen Mode-Fauxpas negativ auffallen könnten. Ich ziehe es vor, Frauen in Situationen des echten Lebens anzuziehen, in ihrer Normalität, in einer Umgebung, in der sie sich wohlfühlen.


Sie leben und arbeiten in Mailand, sind selbst Italiener: Wie steht es Ihrer Meinung nach um die italienische Mode? Gibt es genug Nachwuchs? Manche meinen, hier herrsche Mangel.
Mailand liegt in Italien, und darum kann die Mailänder Modeszene sich nicht entkoppelt von der ganzen Nation entwickeln. In Frankreich herrscht große Wertschätzung für die Modehäuser, es gibt auch Unterstützung durch den Staat. Bei uns ist das nicht so, und es scheint fast, als hätte man das ökonomische Potenzial der Modebranche für das Wirtschaftssystem des Landes noch nicht völlig erfasst. Es geht ja nicht nur um die Shows bei der Settimana della moda, sondern um die Arbeitsplätze in Textilbetrieben, in Produktionsbetrieben. Viele Kleidungsstücke französischer oder amerikanischer Marken sind noch immer made in Italy, doch absurderweise, gerade in wirtschaftlich so schwierigen Zeiten, wird das Gewicht der italienischen Mode unterschätzt. Und das betrifft natürlich auch den Nachwuchs: Hier gibt es ebenso wenig Unterstützung wie für den Rest der Branche.


Wird sich die Stimmung in Mailand durch die Expo verändern, wird es mehr Aufmerksamkeit für das Kreativschaffen geben?
Ich wünsche es mir auf jeden Fall. In mancherlei Hinsicht gibt es in Mailand, in ganz Italien herausragende Leistungen, und ich hoffe, die Expo wird für uns alle Gelegenheiten bieten, die Aufmerksamkeit auf diese Aspekte zu richten, auf etwas überaus Positives.

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