Mein Dienstag

Der „Fall“ Selmayr und das journalistische Jagdfieber

Martin Selmayr.
Martin Selmayr.(c) APA/AFP/JOHN THYS
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Seit Jüngstem geht es in der sonst bisweilen ein wenig schläfrigen täglichen Mittagspressekonferenz der Europäischen Kommission heiß her.

Denn einer der Doyens der hiesigen Korrespondentenriege, Jean Quatremer von der französischen „Libération“, bemüßigt sich entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten nicht bloß dazu, zu diesem „Midday Briefing“ zu erscheinen, nein, er legt hier auch gehörig los. Der Anlass ist die bemerkenswert rasante Bestellung von Martin Selmayr, dem bisherigen Kabinettschef des Kommissionsvorsitzenden, Jean-Claude Juncker, zum Generalsekretär der Kommission, einem äußerst wichtigen, mit großer politischer Machtfülle ausgestatteten Amt.

Quatremer, dem vor einem Vierteljahrhundert das Bravourstück gelang, die korrupten Machenschaften der französischen Kommissarin Edith Cresson zu enthüllen, als Folge dessen die gesamte Kommission unter Jacques Santer zurücktrat (nur Franz Fischler wurde später wiederbestellt), wittert nun die Verschwörung. Selmayr habe sich unrechtmäßig nach oben gehangelt, Bestellungsvorschriften seien missachtet, das Recht gebrochen worden. Knapp am Schreiduell verlaufen seine Frage-Antwort-Duelle, man kann sich das direkt und in Aufzeichnung ansehen, ein schöner Anblick ist es nicht.

Denn im Windschatten des berühmten Jean wittern einige Kollegen die Gelegenheit, der oft nicht sehr auskunftsfreudigen Kommission auf die Zehen zu treten. Das muss man gut finden, wenn es der Wahrheitsfindung dient. Doch nachdem ich nun einem halben Dutzend dieser Spektakel beigewohnt habe, zweifle ich, ob wirklich die Sache und nicht doch persönliche Eitelkeiten im Mittelpunkt stehen. Wenn da in einem Atemzug Selmayrs Bestellung mit Angriffen auf die Demokratie und der Ermordung des slowakischen Journalisten Ján Kuciak zusammengerafft werden, schrammt man allzu knapp an publizistischer Leichenfledderei vorbei. Jagdfieber ist letztlich, ob im Wald oder auf der Pressekonferenz, kein Seelenzustand großer Klarsichtigkeit.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2018)

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