Stadtbild

Baum, Reh, Autobahn und ein Stück Wildnis in uns allen

Taugt nicht nur als Rehfutter: Maulbeere im Wiener Prater.
Taugt nicht nur als Rehfutter: Maulbeere im Wiener Prater.(c) Clemens Fabry
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Immer zur Maulbeerzeit: Natur- als Selbsterfahrung zwischen Südosttangente und Wasserwiese.

Je gezähmter alles rund um uns ist, desto wilder hätten wir's mitunter gern. Zumindest solange dieses Wilde nicht allzu bedrohlich scheint. Freilich, weil dieses Wilde eben wild ist, fragt es gar nicht lang und lebt bis weit hinein ins Städtisch-Kultivierteste mitten unter uns. Und weil wir darüber so wenig wissen, lässt der Naturschutzbund dieser Tage dem Wildtierleben in unseren Gärten nachspüren – mit Hilfe von Fotofallen, die man Interessenten zur Verfügung stellt. Alles Nähere unter https://naturschutzbund.at/nachts-in-meinem-garten.html.


Mir selbst begegnet das Wilde verlässlich einmal im Jahr auf meinem Weg in die „Presse“-Redaktion: in Gestalt einer Rehgeiß, auf die ich stets um dieselbe Jahreszeit, im Übergang von Frühling zu Sommer, und stets am selben seltsamen Ort treffe – hart an der Südosttangente, unweit des Kleingartenvereins Wasserwiese. Nicht früher, nicht später und an keiner anderen Stelle entlang der kilometerlangen Radroute, die mich allwerktäglich durch den Wiener Prater führt. Doch warum gerade dann und warum gerade dort? Nichts, was der bewussten gegenüber vielen anderen Prater-Stellen den Vorrang geben könnte. Auf den ersten Blick zumindest. Ganz abgesehen von der Unruhe verheißenden Lage, eingepfercht zwischen der meistfrequentierten Straße Österreichs und einem umtriebigen Schrebergarten-Rayon.


Als mein Reh dieser Tage wieder, wie gewohnt Ende Juni, an besagtem Ort zugegen war, entschloss ich mich, endlich der Reh-Sache investigativ auf den Grund zu gehen: Ich stieg vom Rad ab, und siehe – das grüne Geäst, das mir fallweise ins Gesicht und an den Radfahrhelm geschlagen hatte, stellte sich als Maulbeerbaum heraus – voller reifer Früchte. Meine Rehgeiß, als Maulbeer-Hedonistin entlarvt. Nix da genügsame Natur – schlichte Schlemmerlust. Jenes Stück Wildnis in uns allen, das uns womöglich das liebste ist.

E-Mails an: wolfgang.freitag@diepresse.com

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