Auf der Suche nach der verlorenen Stille

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Oslo. Nach den Blind Dinners – Essen im Finstern – sind neuerdings Silent Dinners angesagt. Wir aßen ohne Worte in Norwegen.

Erst die Sesamstangen, die beim Zerkauen zwischen den Zähnen krachen. Und jetzt der Karfiol in der Suppe. Bestimmt ist er Teil der Versuchsanordnung: Es klingt fast brutal, wie 22 Löffel taktlos versuchen, die weißen Röschen zu zerteilen, wie das Metall wieder und wieder auf die Porzellanteller knallt. Und wie diese Geräusche nach einer Weile plötzlich so versöhnlich klingen, beinahe wie eine Musikkomposition. Allegro, Presto, dann Adagio. Beim Silent Dinner ist es jedenfalls alles andere als still.
Das Experiment: Ein Abend in einem Ausstellungsraum der Galleri F15 in Moss, südlich von Oslo im Oslofjord. 22 Menschen, die sich nicht kennen. Ein Dreigängemenü. Und dabei und vor allem: kein Wort. Anderthalb smalltalkfreie Stunden löffeln die Gäste ihre Suppe, kämpfen mit Kohlrabischnitzen, gießen glucksend erst weißen, dann roten Wein in ihre Gläser. Und schauen, was passiert. Mit ihnen selbst und mit den Menschen um sie herum.
Der Löffel eines Mannes – runde Brille, schütteres Haar – rutscht am Blumenkohl ab, Suppe schwappt über den Tellerrand. Er hebt leicht den Kopf, schaut in die Runde, keiner hat ihn ertappt. Die meisten halten ihre Blicke gesenkt, sind damit beschäftigt, möglichst leise zu kauen und zu schlucken und die Gläser behutsam auf dem weißen Tischtuch abzustellen.

Es wird immer lauter

Aber es wird nicht still. Es wird immer lauter. Vor allem in der ersten Pause, in der die Suppenteller schon abgeräumt und die Hauptgänge noch nicht serviert sind. Wohin nur mit Händen, Blicken, Gedanken? Die eine Hälfte ist still, wirkt in sich gekehrt. Aber in der anderen mischt sich jetzt ein Kichern in das Glucksen und Schlucken von Wein. Ein zweites Kichern kommt dazu, dann prustet eine junge Frau laut los, die Unruhe pflanzt sich wie eine unsichtbare La-Ola-Welle durch die Reihe fort. Da war der Karfiol noch der einfachere Part, die große Herausforderung sind die Pausen, wenn selbst das Essen als Ablenkung fehlt. Nina Backman hat sich so etwas schon gedacht. Es ist ihr drittes Silent Dinner, und sie beobachtet ihre Gäste genau. „Vielleicht ist das ein nordischer Gedanke“, hat die Gastgeberin vor dem Essen gesagt. „Aber ich glaube, wenn jemand schweigen kann, ohne nervös zu werden, ist er mit sich selbst im Reinen. Es ist verräterisch, wenn jemand nicht in sich ruhen kann.“

Jedermannsrecht

Backman ist keine Verhaltensforscherin, sie ist Künstlerin und stammt aus Finnland, wo das „jokamiehenoikeus“, die Tradition des Jedermannsrechts gilt. Damit berufen sich die Nordländer auf einen wichtigen Teil ihrer Kultur: die enge Verbindung zur freien Natur mit viel Raum und Stille.
Und die scheint immer mehr zum Luxusgut zu werden in einer Welt, in der schon heute mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten lebt. Ingenieure und Designer tüfteln an möglichst lautlos Staubsaugern, Städteplaner lassen in ihren Entwürfen Raum für Stille, Menschen zahlen viel Geld für Urlaube, in denen sie ihr Smartphone an der Rezeption abgeben.
In ihrem Silence Project sucht Backman gemeinsam mit anderen Künstlerinnen in Soundarbeiten, Apps und einer Gruppenausstellung die Ruhe und Abgeschiedenheit ihrer Heimat im Lärm der Großstadt. Sie veranstaltet Seminare, in denen sie Philosophen, Marsforscher und Experten für Sound Studies (oder besser: Silence Studies?) nach Stille befragt. Holt beim Silent Dinner auch andere Ruhesuchende an einen Tisch und fragt, wie unterschiedlich, widersprüchlich und persönlich das Erleben von Stille ist. Und wie groß der Einfluss der jeweiligen Kultur auf so ein Dinner in Berlin, Oslo, oder Hongkong ist.
Erste Lektion: Stille bedeutet nicht immer Alleinsein. Und zweitens: Nicht sprechen bedeutet nicht zwangsläufig Stille. Stille kann ein Ort sein, ein Gefühl, eine ästhetische Kategorie. Nur eines ist sicher überall gleich: Schweigen schärft die Sinne.
Der Duft von Steinpilzragout zieht in den Raum, noch bevor Kellnerin Nummer eins zu sehen ist – das unverkennbare Quietschen ihrer Gummisohlen kündigt schon den Hauptgang an. In den Weingläsern spiegelt sich flackernd das Kerzenlicht. Bald sitzen die Ersten vor dem dampfenden Essen – Rentierfilet mit Steinpilzpastete an Kartoffelmousse und Gemüse – und wissen nicht recht, ob sie schon anfangen sollen, obwohl die Gastgeberin noch auf ihren Teller warten muss. Den Nachbarn fragen kann man schließlich nicht.

Das Schmatzen des Pürees

Einer fängt einfach an, zwei andere schließen sich an. Der Rest legt noch die Hände in den Schoss, spielt mit dem Weinglas, faltet die Serviette, wartet ab. Und als das Essen kommt, gehört jedem Bissen die ganze Achtsamkeit. Mit den Worten schwindet das Tempo, und endlich hört man auch all das, was sonst untergeht, weil nebenher das Kind schreit, der Partner vom Tag erzählt oder das Radio läuft: Das Schmatzen des Pürees, die Pastete blättert auseinander wie leises Rascheln im Laub. Und wie klingt eigentlich Fleisch, dessen Fasern mit einem Messer auseinandergezogen werden?

Vier Minuten, 33 Sekunden

In Moss herrscht jetzt eine Stille, vielleicht annähernd so wie 1952 in der New Yorker Maverick Concert Hall bei der Uraufführung von John Cages „Silent Piece“: Vier Minuten, 33 Sekunden ließ der Avantgardekomponist das Publikum allein mit seinem Hüsteln, dem Reiben von Hosenstoff an den Stühlen, dem Rauschen im Raum. Vier Minuten und 33 Sekunden sitzt der Pianist vor dem Klavier, ohne einen Ton zu spielen. Und trotzdem ist es nicht still, wie es absolute Stille sowieso nicht gibt, nicht einmal im schalltoten Raum, wo noch das Blut in den eigenen Adern rauscht und der Herzschlag pulsiert.
Was also ist Stille, wo fängt sie an, wo hört sie auf? Als auch der Letzte die Reste des Schokoladenmousse vom Teller gekratzt hat, spricht die Gastgeberin die erlösenden Worte: „Thank you very much.“ Fast scheint es, als hätten alle seit der ersten Sesamstange die Luft angehalten – und dürften jetzt endlich wieder atmen. Lautes Stimmengewirr statt verlegenen Schweigens, Menschen, die sich nicht kennen und ihren Blicken ausgewichen sind, sehen sich plötzlich in die Augen und reden miteinander, als würden sie sich Jahre kennen. Einer sagt: „Die Leute hier scheinen mir jetzt so seltsam vertraut. Eine ziemlich intime Erfahrung.“
Ein anderer, ein Steak-Liebhaber, zeigt auf das Fleisch auf seinem Teller: „Das schmeckte plötzlich nicht mehr, und war so schwer zu kauen“, sagt er. „Die Gedanken sind plötzlich so laut“, sagt ein anderer. Und: „Gefangen im eigenen Körper.“ Aber das stille Essen setzt auch Erinnerungskaskaden frei. „Als Kind wurde ich zum Haareschneiden immer auf einen Bauernhof auf dem Land geschickt. Dort haben die Leute auch nicht viel gesprochen. Vorhin war es kurz wie damals dort“, sagt eine Frau und hängt noch ein Aber dran: „Ich war überrascht, wie wenig still es eigentlich war.“ Und es fallen Begriffe, die man sonst in Kirchen findet, von „heilig“ bis „andächtig“ – mit dem Vorteil, dass der Wein hier echt ist und es genug zum Nachschenken gibt. Tags darauf stehen die Weingläser mit den eingetrockneten Resten immer noch auf dem Tisch, die Spuren der verwischten Erdbeersauce wirken im Tageslicht seltsam entrückt. Die Essensreste sind jetzt Kunst: Als Teil der Gruppenausstellung „Silent Space – Intensified Integrities“ zeigen sie, wie besonders Stille für uns geworden ist. Sie braucht jetzt einen Ausstellungsraum, um überhaupt bemerkt zu werden.

urbane genüsse in oslo, aussichtsreiche am lysefjord bei stavanger

Silent Dinners von Nina Backman, die derzeit in Berlin arbeitet: 21., 26. und 27. März bei Zagreus Projekt, Koch Kunst Galerie & Catering, Brunnenstraße 9a, 10119 Berlin, Infos & Reservierung bei Ulrich Krauss, +49/30/280 956 40
info@zagreus-berlin.net; http://silenceproject.fi/venues/;
Oslo-Attraktionen: Oper. Für den Entwurf wurde das norwegische Architekturbüro Snøhetta mit dem Mies van der Rohe Award for European Architecture ausgezeichnet. Der Bau mit seinem spektakulären Innenleben liegt direkt am Wasser, man kann ganzjährig auf dem Dach herumspazieren und den Blick über Oslo und den Fjord genießen. http://operaen.no
Astrup Fearnley Museet. Der Entwurf für dieses Museum stammt von Renzo Piano und beherbergt als kulturelles Flaggschiff der Stadt zeitgenössische Kunst. Direkt am Wasser, das Äußere erinnerte denn auch an ein altes Holzboot. afmuseet.no
Shopping: Norway Designs. In diesem 850m2 großen Kaufhaus gibt es zahlreiche Geschäfte mit norwegischem, nordischem und europäischem Design und Interieur. Eine große Verkaufsausstellung präsentiert norwegische und nordische Kunst- und Gebrauchskunst sowie ausgewählte Industriedesignprodukte aus Europa. Weitere separate Aufstellungen finden das ganze Jahr hindurch statt. Stortingsgata 28, norwaydesigns.no
Pur Norsk (Rein Norwegisch) ist ein Design-, Geschenk- und Accessoiregeschäft, das sich auf norwegische Qualitätsprodukte spezialisiert hat. Angeboten werden Designobjekte, persönliche Accessoires, Kuriositäten und Kinderartikel. 2008 wurde Pur Norsk vom britischen Trendmagazin „Monocle“ zu einem der fünf besten Interieurgeschäfte der Welt gekürt. Industrigata 36 , purnorsk.no
Zahlreiche Boutiquen und Vintage-Läden mit originellem Interieur finden sich im Viertel Grunerløkka. Einfach treiben lassen – und sich in der allseits beliebten Pizzeria Villa Paradiso stärken. http://villaparadiso.no
Essen & trinken. Das Grefsenkollen ist ein Gourmetrestaurant auf einem Hügel etwas außerhalb der Stadt. Wer den Aufstieg durch die Waldlandschaft auf sich nimmt, hat sich nicht nur ein exquisites Essen verdient, sondern auch den Blick auf die Fjorde. grefsenkollen.no
Hanami. Japanisches Fusionrestaurant mit frischem Seafood aus den einheimischen Küstengewässern. Hier kann man wunderbar draußen an der Wasserpromenade sitzen. Kanalen 1; hanami.no
Markthalle. Regionale und hochwertige Ware in angenehmer Atmosphäre. mathallenoslo.no
Cafés. Oslo ist bekannt für seine elaborierte Kaffeekultur, wovon man sich zum Beispiel im Fuglen überzeugen kann: gemütliches Café mit skandinavischem Design (Universitetsgata 2; fuglen.no
Bier. In Norwegen gibt es zahlreiche Micro Breweries. Für einen Streifzug eignet sich am besten das Viertel Grunerlokka mit seinen Pubs, z. B. die Schouskjelleren Mikrobryggeri, Trondheimsveien 2; schouskjelleren.no oder das Grunerlokka Brygghus, Thorvald Meyersgate 30B; brygghus.no
Designer-Drinks. Die kleine Cocktailbar No. 19 serviert großartige Drinks wie Violet Hands, zubereitet u. a. aus Throndhjems Aquavit. Mollergata 23; no-19.no
Schlafen: The Thief. Designhotel. Einige der Dekogegenstände sind Leihgaben aus dem Astrup Fearnley Museet. Landgangen 1; thethief.com
Preikestolen. Anreise am besten mit der Fähre von Stavanger nach Tau, mit dem Bus weiter zur Preikestolhytta, einer Übernachtungsmöglichkeit. Von hier noch zwei Stunden auf die Felskanzel. An gutes Schuhwerk denken! Infos: regionstavanger.com
Flüge Wien–Stavanger u. a. mit Lufthansa/SAS via FRA
Norwegen pauschal: dertour.at; kneissltouristik.at

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