Kapverden: Von der Blechhütte an die Uni

"Shoes on the Wire"Reuters
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Eine Kapverdierin führt Touristen durch Ribeira, das einstige Armenviertel von Mindelo, der Hauptstadt der Insel São Vincente.

Die Schnürsenkel der linken Schuhe sind mit den Bändeln der rechten Schuhe verknüpft. Statt eines „Bird on the Wire“ empfängt mich in Ribeira Bote, einem Stadtteil von Mindelo, der Hauptstadt der Kapverden-Insel São Vicente, also eine Ansammlung von „Shoes on the Wire“.

Während ich verwundert nach oben schaue, scheinen die Einheimischen die Installation für völlig normal zu halten, als wären zusammengebundene Schuhe auf Bäumen und Stromleitungen in den meisten Großstädten der Welt zu bewundern. Aber vielleicht wohnt hier ja ein örtlicher Künstler, der auf sich aufmerksam machen will. Oder ist es vielleicht eher eine Art Scherz oder Schabernack, ein Polterabendbrauch, nur ohne zerschmettertes Geschirr, dafür mit zusammengebundenen Schuhen?

Doch auch mit dieser Vermutung liege ich falsch. Die Psychologin Mirian Simone da Cruz Lopes, die in einem Gemeindetourismusprojekt in Ribeira Bote mitarbeitet, das vom italienischen Kapuzinerbruder und Streetworker Frey Silvino initiiert wurde, klärt auf: Schuhe, die an einer Leitung hängen, zeigen Insidern, dass hier in der Gegend Marihuana verkauft wird, Plastiksackerln an Leitungen weisen hingegen darauf hin, dass Kokain im Angebot ist.

Platz 28 der Weltrangliste

Vielleicht haben die Schuhe in diesem Fall aber noch einen ganz anderen Hintergrund: Mindestens drei Spieler der kapverdischen Fußballnationalmannschaft, die es Anfang 2014 immerhin auf Platz 28 der Weltrangliste geschafft hat, stammen ursprünglich aus Ribeira Bote.

Seit 2012 werden alternative Stadtteilrundgänge durch Ribeira Bote angeboten „Unser Stadtteil“, sagt Mirian, „hat zwei Gesichter. Er ist der Herkunftsort von international bekannten Künstlern. Die große kapverdische Sängerin Cesaria Evora wurde in Ribeira Bote geboren und auch der Klarinettist und Saxofonist Luis Morais.“ Andererseits, so erklärt die 23-Jährige, gebe es hier im Quartier auch die höchste Arbeitslosigkeit auf den Kapverden. Außerdem sei der Stadtteil, in dem rund 5000 Menschen leben, als kriminell verrufen. Vor allem 2010 und 2011 führten Konflikte zwischen Jugendgangs zu einem Anstieg der Gewaltkriminalität. „Mittlerweile“, versichert Mirian, „ist die Jugendkriminalität im Stadtteil aber wieder zurückgegangen.“

Auf der Rückseite des weißen Shirts, das sie trägt, sind mehrere Fotos aufgedruckt. Sie sind in Form eines Puzzlespiels angeordnet und sollen das neue Gesicht des Viertels zeigen: Musik und Sport, Keramik, Bildhauerei, Malerei, Gastronomie und Mandinga.

Ribeira Bote ist ein Stadtteil von Mindelo, der zweitgrößten Stadt auf den kapverdischen Inseln. Die 75.000-Einwohner-Stadt, in der früher die Dampfschiffe auf dem Weg nach Amerika haltgemacht haben, liegt auf der Insel São Vicente, die zu den nördlich gelegenen Inseln gehört, den Inseln „über dem Wind“. „In der Mitte des vergangen Jahrhunderts kamen viele Menschen von den anderen Inseln hierher, weil sie Arbeit suchten“, berichtet Mirian. Sie waren bitterarm – und hausten in kleinen Blechhütten, die sie illegal auf einer ehemaligen Müllhalde errichteten. Casas de lata nannte man diese Blechhütten, aus denen sich die Siedlung Ilha d'Medeira entwickelte – das Herzstück des Stadtteils Ribeira Bote. Ab den 1960er-Jahren baute man dann nicht nur Blech-, sondern auch Steinhütten. Und inzwischen muss man die Gebäude aus Blech fast schon suchen. „Doch ich selbst bin auch noch in einer Blechhütte geboren“, berichtet Mirian Lopes, die 1991 zur Welt kam.

Vater im Gefängnis

Nachdem sie viel über die Umgebung erzählt hat, berichtet Mirian, etwas stockend, auch von ihrem eigenen Leben: „Meine Mutter war 16, als sie mit mir schwanger war. Damals ist mein Vater, ein Drogenhändler, gerade das erste Mal ins Gefängnis gekommen“, sagt sie. „Als ich elf war, ist meine Mutter nach Portugal gegangen und hat mich bei meiner Großmutter gelassen. Wenn mein Vater einmal nicht im Gefängnis war, war er immer sehr großzügig – er hat mich auch immer animiert, möglichst viel zu lesen.“

Nur: Ihr Vater war meist im Gefängnis, und als sie 13 war, wurde er bei einer Auseinandersetzung im Drogenmilieu getötet. „Meine Mutter ist dann wieder aus Portugal zurückgekehrt und hat als Prostituierte gearbeitet und so die Familie durchgebracht. Dadurch mussten wir nicht hungern und hatten meist sogar so viel zu essen, dass wir noch Kinder aus der Nachbarschaft zu den Mahlzeiten einladen konnten“, erzählt Mirian mit ernster Miene.

Dank eines Stipendiums hatte Mirian später die Möglichkeit, Psychologie zu studieren. Heute ist sie selbst Mutter eines dreijährigen Sohnes und macht drei Jobs gleichzeitig: im von der Gemeinde betreuten Tourismus, in einem Kindergarten und als Verkäuferin in einem Laden.

„Als ich an der Uni war, haben viele auf mich heruntergeschaut, weil ich aus Ilha d'Madeira komme. Deshalb ist es schön, dass ich diesen Stadtteil nun bei den Führungen anders darstellen kann.“ Bei den Rundgängen ist es ihr wichtig, mit den Bewohnern ins Gespräch zu kommen. „Wir besuchen jedes Mal andere Leute, damit niemand neidisch wird“, versichert sie. Heute steht ein Besuch in einem kleinen einheimischen Restaurant auf dem Programm, in dem uns Makrelen und Reis serviert werden. Und ein Blick in die Werkstatt von Victorio Manuel de Rosa Goncales. Der 52-jährige Schuster stammt ursprünglich von der Insel Fogo, lebt aber bereits seit dem Jahr 1992 auf São Vicente.

„Ich fühle mich wohl hier“, sagt er und steht mit ausgebreiteten Armen hinter seiner Ladentheke. Vor sich hat er zwei Flipflops und mehrere Paar braune und schwarze Lederschuhe aufgereiht, die fertig repariert sind. Hinter ihm steht ein Lautsprecher, der ausreichen dürfte, eine Discothek zu beschallen. Vier Kinder, so berichtet Victorio, habe er. Neben seiner Tätigkeit als Schuster arbeitet er ehrenamtlich als Prediger für eine Freikirche.

Lachende Schuhe

Besonders laut und lebhaft geht es in Ribeira Bote beim Karneval zu. Die mit schwarzer Farbe eingecremten, martialisch wirkenden Mandingas (span.: Teufel) sind für Ribeira Bote typisch und locken mit ihrem Höllenspektakel auch Kapverdianer aus den besseren Stadtteilen ins Armenviertel.

Djoy Soares, ein Töpfer und Keramikkünstler, arbeitet in einer kleinen Werkstatt im Gemeindezentrum. Er formt Gesichter und Figuren aus Ton, die an die Mandingas angelehnt sind. Den Ruf des Stadtteils aufzubessern, mit Kunst und Kultur Schlagzeilen zu machen und nicht mit Drogenkriegen und Gewalt – das scheint in Ribeira Bote gelungen zu sein.

„Der schlechte Ruf hat unseren Stadtteil lang belastet, doch in den vergangenen Jahren ist die Wahrnehmung sehr viel positiver geworden“, freut sich Albertino Silva, ein Künstler, der Flipflops in Gesichter verwandelt und der in Ribeira Bote sein Atelier hat.

„Inzwischen kommen immer mehr Leute aus den anderen Stadtteilen nach Ribeira Bote – vor allem natürlich zum Karneval“, berichtet Albertino, dessen Steinmetzarbeiten und Schuhkreationen längst international gefragt sind. Über Strom- und Telefonleitungen hängt er seine lachenden Schuhe nicht – stattdessen vertreibt er sie weltweit über das Internet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2015)

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