Balkan: Über die Steine, über die Schluchten

Wanderbilder: Peak of the Balkans Trail
Wanderbilder: Peak of the Balkans TrailStefan Schomann
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Hoch über Albanien, Kosovo and Montenegro. Auf dem Peak of the Balkans Trail ist der Wanderer noch recht allein. Weder Seilbahnen noch Hotels erschließen die Bergwelt. Umso nachhaltiger sind Begegnungen.

Düster und mächtig verliert sich die Rugova-Schlucht in den Wolken. Eine Karl-May-Landschaft mit undurchdringlichen Wäldern, engen Felsenpforten und verborgenen Mysterien, eine der klassischen Schluchten des Balkans eben. Und eine der tiefsten Europas dazu. Um hineinzukommen, braucht es keine Zauberformel, nur ein geländegängiges Fahrzeug und einen unerschrockenen kosovarischen Fahrer – weniger wegen der kühnen Straßenführung, das auch, aber vor allem wegen der anderen, noch unerschrockeneren kosovarischen Fahrer. Oben auf der Höhe jedoch, wo ein Pass hinüber nach Montenegro führt, würde dann auch kein Sesam-öffne-dich mehr helfen. Seit dem Kosovo-Krieg endet die Straße dort von beiden Seiten, und mit ihr auch die Welt. Zu Fuß aber gelangt man hinüber. Immer mehr ausländische Wanderer durchstreifen die Alpet Shqiptare, die Albanischen Alpen, wie das 2700 Meter hohe Massiv gemeinhin genannt wird. Während ihr mitteleuropäisches Pendant touristisch längst abgegrast ist, blieben sie weitgehend unerschlossen. Weder Seilbahnen noch Skilifte durchkreuzen die Bergwelt. Keine Hotels, keine Ausflugslokale, kein Nachtleben – und keine asphaltierten Straßen. Seit einigen Jahren führt ein Fernwanderweg in weiter Runde durch den Kosovo, Montenegro und Nordalbanien: der Peaks of the Balkans Trail. Wir wandern als Gruppe neun Tage lang am Stück, flankiert von ein paar weiteren Tagen mit Kulturprogramm. Zweihundert Kilometer Wegstrecke, mit strammen tausend Höhenmetern jeden Tag.

Einst war der Kosovo die Kornkammer der Albaner. Maultiere schafften den Mais bis an die Küste und kehrten mit Salz beladen zurück. Doch die alten Karawanenwege, die Saumpfade und Schmugglerrouten – sie wucherten zu und waren kaum mehr kenntlich. Hinter dem Eisernen Vorhang fiel Albanien ins Dornröschenkoma. Kaum erwacht, begann der Kosovo-Krieg. Die Bauern trieben ihr Vieh nicht mehr auf die Almen. Doch nun scheint deren Beweidung wieder sinnvoll. Weil die Hochtäler keine Sackgassen mehr sind und weil immer mehr Wanderer für willkommene Abwechslung sorgen und für nicht minder willkommene Nebeneinnahmen. So auch für Mustafa und Fetija Nikci, die ihr Haus hoch droben in der Schlucht zum Gästehaus ausgebaut haben. Das Wohnzimmer dient als Speisesaal, jedes irgendwie verfügbare Zimmer als Schlafraum. Am Morgen führt Mustafa bei strömendem Regen seine Sammlung ausrangierter Sägen, Butterfässer und anderer Alltagsgeräte vor. Wie fast alle hier oben lebt er vom Wald. Was ihm zugutekam, als er für paar Jahre als Forstarbeiter in die Schweiz ging. Regen hin oder her, wir gehen los. Über Hänge, die vor Himbeeren strotzen, und steile, üppig grüne Almen. Sonst ist kaum jemand unterwegs, nur ein Schäfer, der stoisch unter einem schwarzen Schirm über die Berge schreitet, umströmt von seiner wuscheligen Herde und einem tattrigen Hütehund. Ab und zu geben die Wolken den Blick in die Täler frei. Ein Bild des Friedens, auch wenn die verfallenen Schuppen und die improvisierten Hütten ahnen lassen, dass hier der Krieg gewütet hat.

Wanderbilder: Peak of the Balkans Trail
Wanderbilder: Peak of the Balkans TrailStefan Schomann

Bär bleibt Bär

Nach zwei Tagen klart das Wetter auf. Ging es bisher durch eine grüne Mittelgebirgswelt wie die Voralpen, so zeigen die Berge sich hier karstig und kaum weniger schroff als die Dolomiten. Drüben in Montenegro gibt es auch einige Hütten, etwa die der Radnički, die seit 1945 vom Belgrader Bergsportverein betrieben wird. Hüttenwirt Kanda ist Hausmeister und Auskunftsbüro in einem. Die Wälder seien voll von wilden Tieren. Erst neulich hätten sie vier Bären gesichtet. Aber noch nie hätte er von einem Angriff gehört. „Sind sie ja mehr oder weniger Vegetarier. Aber trotzdem, Bär bleibt Bär.“ Dann amüsiert er sich noch über eine Besucherin aus der Stadt, die wissen wollte, welche Teebeutel er so vorrätig hätte. „Teebeutel? Wir sind von Tee umgeben! Hier wachsen doch die schönsten Kräuter!“

Flottierende Seerosen

Wie ein schwarzgrüner Kelch umschließen die Berge den nahen See von Plav. Eine dünne Wolkenbank schwebt auf halber Höhe, und die Wasserfläche schimmert samten in der Abendsonne, eingefasst von rauschendem Schilf und flottierenden Seerosen. Am schönsten Uferabschnitt liegt unsere „Lodge“, die in einer speziellen Art von Heimatstil gehalten ist, mit gewaltigen Steinbrocken und Holzbalken, von fast schon militanter Rustikalität. Am Abend erläutert Wanderführer Ricardo Fahrig die Route auf der Karte. Er stammt aus Quedlinburg und lebt seit einigen Jahren in Albanien. Morgen steht die Königsetappe an. Wie fast jeden Tag führt auch sie über einen Pass. Die alten Hirtenpfade, diese Marschrouten der Transhumanz, gehorchen einer naturgegebenen Dramaturgie, einer rhythmischen Abfolge von Crescendo und Decrescendo, von Steilstücken und Plateauphasen. Man lässt die alte Welt schrittweise hinter sich, um oben einzutreten in ein neues Tal und mehrfach sogar in ein anderes Land. Bedauerlicherweise sind die Pässe nur geringfügig niedriger als die flankierenden Gipfel, sodass wir de facto Passbesteigungen unternehmen.

Am nächsten Vormittag erwarten uns drei Bauern, zwei Pferde und ein Maultier mit Packsätteln am vereinbarten Treffpunkt. Um vier Uhr früh sind sie drüben in Albanien aufgebrochen; nun geht es in Karawanenformation zurück. Wir marschieren in ein breites, eiszeitliches Hochtal, das von silbergrauen Felswänden gesäumt wird. Eine Landschaft in Cinemascope: weit und heroisch, mit dem Arapi als Magnetberg im Talschluss. Er ist wie ein Zuckerhut geformt – ein Zuckerhut mit einer achthundert Meter hoch klaffenden Wand. „Für Gruppen tun wir uns zusammen“, erklärt einer der Treiber, „jede Familie hat ja nur ein Pferd.“ Damit transportieren sie Feuerholz und schaffen Waren über die Berge, wenn die Pisten unpassierbar sind. „Dass jetzt auch Wanderer unsere Tiere anheuern, ist ein Segen. Und wir kommen dadurch weiter herum.“

Ein Teil der Gruppe erstürmt den Arapi, dann geht es in steilen Serpentinen hinab ins Tal von Thethi. Viele Albaner denken, dass dort ganzjährig Schnee liegt. Tatsächlich liegen oben sogar Gletscher – geografisch auf der gleichen Höhe wie Rom und nur fünfzig Kilometer von der Adria entfernt. Einige Bewohner der Küstenebene zogen sich einst vor den türkischen Invasoren in die Berge zurück, und bis heute sind diese Täler katholisch geblieben. Oder es vielmehr wieder geworden, nachdem die Kommunisten versucht haben, Albanien in ein atheistisches Land umzuformen.

Wanderbilder: Peak of the Balkans Trail
Wanderbilder: Peak of the Balkans TrailStefan Schomann

Letzte Wehrtürme

Roza Rupa hat hier ihre Kindheit verbracht. Ihrer Schulausbildung wegen zog die Familie dann nach Shkodra. Nun aber wird das Haus im Tal wieder instand gesetzt, auch als Quartier für zahlende Gäste. Für die der Besuch in der nahen kleinen Kirche dann obligatorisch ist. „In der Kommunismuszeit hat sie als Ambulanz, Apotheke und Kindergarten gedient. Ich selbst bin hier zur Welt gekommen.“ Die zweite Sehenswürdigkeit bildet einer der letzten Wehrtürme. Als Symbole der Feudalzeit wurden sie genauso geschliffen wie die Sakralbauten. Selbst das Wort, erklärt Rupa, wurde in Orwell'scher Manier mit einem Bann belegt: „Die wollten alles, was früher war, vergessen machen.“ Das Erdgeschoß diente für die Tiere, die beiden darüberliegenden für die Menschen. Oben gibt es einen Ausguck mit Schießscharten.

Denn der Turm repräsentiert auch eine Tradition, für die Albanien ebenso berühmt wie berüchtigt ist: die Blutrache. Die betroffenen Männer verbrachten hier eine Art Hausarrest, bis die Fehde beigelegt war. Was freilich oft nicht gelang. Heute schlendert die Internationale der Rucksackreisenden die Dorfstraße entlang und bevölkert die Vorgärten. Sie kommen sogar von Japan und Neuseeland, um dieses Shangri-La der Skipetaren zu entdecken. Gemeinsam mit der GIZ und anderen Entwicklungsorganisationen hat der Deutsche Alpenverein hier Pionierarbeit geleistet. Hat Gästezimmer, Höhenwege, Campingmöglichkeiten initiiert, Wanderführer ausgebildet und dafür plädiert, auch einmal in Europa auf Trekkingtour zu gehen, mit Packtieren auf alten Pfaden. Den Peaks of the Balkans Trail absolviert zu haben, zählt in der Szene inzwischen nicht weniger als eine Alpenüberschreitung.

Fahrig hat selbst einen Winter lang im Tal gelebt. „2006 eröffneten die ersten fünf Gästehäuser, da kamen 300 Besucher nach Thethi. Heute sind es 30.000.“ Zur Erfolgsgeschichte hat auch die schier unendliche Gastfreundschaft der Bewohner beigetragen. Gjergj und Age Haruscha etwa haben aus einem bescheidenen Häuschen mit viel Fleiß ein stattliches Anwesen geschaffen. „Die jetzige Zeit“, meint der hochgewachsene Bauer, „ist mit dem Kommunismus nicht zu vergleichen. Wir leben frei, wir können reisen und unsere eigenen Geschäfte tätigen. Der Unterschied ist so groß wie der zwischen Sonne und Mond!“ Auch wenn als Verständigung nur heiteres Radebrechen möglich ist, bekennt die Hausherrin: „Ich widme mich unseren Gästen wie Verwandten. Schon manches Mal hab ich geweint, wenn sie abgereist sind. Und sie haben dann auch geweint.“ Am nächsten Tag erkunden wir das lang gestreckte Tal. Begegnen einem Ziegenhirten, der, trüge er nicht ein Fußballtrikot, einer antiken Vase entstammen könnte. Bestaunen Wasserfälle, die über die Wände stieben. Inspizieren die Küchen der Bauersleute, die uns mit Schmalzgebäck, geschmorter Paprika, zarten Aufläufen und kleinen, selbst geangelten Fischen verköstigen. Und wir baden in den Gletschermühlen, runden Becken, die ein Sturzbach aus dem Felsen herausziseliert hat. Das Wasser ist eisig – aber so herrlich klar und erfrischend, dass wir dann doch ein ums andere Mal hineinspringen.

Arkadien mit Coca-Cola

Die folgende Tagesetappe hinüber nach Valbona ist inzwischen derart populär, dass sie als Coca-Cola-Highway apostrophiert wird. Entlang des Wegs harren einige zusammengezimmerte Kioske mit ein paar Plastikstühlen auf Kundschaft. Chipssackerln und Kekse füllen die Bretter, und ein vorbeirauschender Bach kühlt die Getränkedosen – jede ein Euro. Begleitet von Packpferden und Treibern, stellt sich bald wieder das Karawanengefühl ein, die Geborgenheit im Gleichmaß der Bewegung. Wir nähern uns dem archimedischen Punkt der Tour, an dem die drei Länder zusammentreffen. Die Hänge sind mit Heidelbeeren regelrecht gepolstert; eifrige Sammler durchkämmen sie. Die Montenegriner meist auf der albanischen Seite und die Albaner auf der montenegrinischen. Beide schwören darauf, dass drüben die saftigeren Beeren wachsen. Wie in ganz Albanien lauern auch hier entlang der Grenze kleine, schildkrötenförmige Betonkuppeln. Insgesamt wurden mehrere Hunderttausend dieser Wachtbunker errichtet, oft an den schönsten Stellen, selbst auf Friedhöfen. Wohl auf ewig werden sie von Enver Hodschas Wahnsystem zeugen. Kein Wunder, dass der Diktator einst erklärte: „Wir sind an Fremdenverkehr nicht interessiert.“ Was ihm ausländische Gäste gar nicht genug danken können, begegnet man ihnen doch durchwegs mit Höflichkeit und Hochschätzung.

Grenznahe Almen wie Doberdol durften nicht bewirtschaftet werden und verfielen. Heute aber steuern die Weitwanderer sie gerade wegen ihrer Abgeschiedenheit an. So auch die Hütte jenes Mannes, der allgemein als Baschkim der Schäfer bekannt ist, obwohl er die Schafe mittlerweile seiner neuen Leidenschaft geopfert hat – der, ein perfekter Gastgeber zu werden. „Die achtzig Tiere habe ich verkauft und verwende nun den Erlös darauf, unsere Behausung zu einer ordentlichen Herberge auszubauen.“ Wie ein weltläufiger Hotelier betont er, dass er seine Standards kontinuierlich verbessern möchte. Eigentlich wollte er diese Saison noch den Stall versetzen und die zweite Badehütte fertigstellen. Auch einige seiner Nachbarn bauen nun an. Sie stammen alle aus dem gleichen Dorf und sind teilweise verwandt miteinander. Die Schwägerin melkt allabendlich ihre Schafe, während die wenigen Pferde und Kühe von selbst in den schützenden Bannkreis des Almdorfs zurückkehren. Rundum erstreckt sich eine bukolische Landschaft mit schütteren Wäldern, duftenden Wiesen und karstigen Felsen – das Reich des Pan. Wanderer, kommst du nach Doberdol, du findest dort noch einen Abglanz von Arkadien.

Zum Peaks of the Balkans Trail

Tour: Die beschriebene Rundtour wird vom Summit Club des Deutschen Alpenvereins angeboten. Sie umfasst neben der neuntägigen geführten Wanderung auch noch ein dreitägiges Besichtigungsprogramm im Kosovo. Das Gepäck wird mit Trossfahrzeugen oder Packpferden transportiert. Preis ohne Flug ab 1375 Euro. www.dav-summit-club.de

Im Prinzip kann man den Peaks of the Balkans Trail auch auf eigene Faust begehen; bei den Routen gibt es die verschiedensten Varianten. Allerdings muss man dann das komplette Gepäck schultern und auch längere Tagesetappen einplanen, da keine Transferfahrten organisiert sind.

Flug: Austrian Airlines fliegen von Wien aus direkt in die Hauptstädte aller drei Länder. Der Linienflug nach Prishtina beginnt bei etwa 200 Euro.

Reisezeit: üblicherweise von Juni bis September.

Literatur: Max Bosse, Kathrin Steinweg: „Wanderführer Peaks of the Balkans“, Bergverlag Rother, 2016.

Compliance: Die Reise wurde von DAV Summit Club.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.4.2017)

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