Stammestreffen im Schutz der Wälder

Je weiter man dem Suriname flussaufwärts folgt, desto abgeschiedener die Bevölkerung. Die Maroons leben weit im wenig zugänglichen Landesinneren.
Je weiter man dem Suriname flussaufwärts folgt, desto abgeschiedener die Bevölkerung. Die Maroons leben weit im wenig zugänglichen Landesinneren.(c) beigestellt
  • Drucken

Nicht jeder weiß, auf welchem Kontinent Suriname liegt. Das kleine Land im Norden Südamerikas fasziniert durch Regenwald, Kolonialerbe und Sklavenkultur.

Blätter, Baumstämme, Lianen – das ist es, was wir sehen. Nicht besonders aufregend. Um ehrlich zu sein: ganz schön eintönig. Erfrischungsgetränke, Snacks, Kerzen, Medizin und Badezusätze – das sieht unser Guide Simon auf dem Weg durch den Regenwald. Eine Art Shopping-Mall der Natur, für die man keine Kreditkarte braucht, nur das Wissen von Generationen. Wie gut, dass der Einheimische einem auf die Sprünge hilft. Das hier ist sein erweiterter Vorgarten – er lebt im Dorf nebenan, stammt von entflohenen Sklaven ab, die sich seit Anfang des 18. Jahrhunderts in den Wäldern Surinames vor den Plantagenbesitzern versteckten und bis heute hier leben. Gehalten hat sich die Bezeichnung Maroons, hergeleitet vom spanischen Wort für entlaufenes Vieh, cimmaron. Die niederländischen Kolonialherren nannten sie abschätzig „Buschneger“. Was Simon der Gruppe zeigt, ist eine Art Lehrpfad im Dschungel. Nicht angelegt, aber einmal im Kopf zurechtgelegt. Für Unwissende aus der Hauptstadt oder eben Touristen. Oft wird der Weg nicht genutzt, nur wenige Besucher finden hierher an den Oberlauf des Suriname River, zu den Dörfern der Saramaccaner, einem von sechs Maroon-Stämmen im Land.

Das Staatsgebiet von Suriname ist fast doppelt so groß wie Österreich und besteht zu 90 Prozent aus Regenwald. Straßen gibt es vor allem an der Küste, wo auch die Hauptstadt, Paramaribo, liegt, in der die Hälfte der Bevölkerung lebt. Eine Handvoll Straßen reicht noch ein Stück weiter gen Süden, doch die eigentlichen Verkehrswege ins Innere des Landes sind Flüsse. Auch wir kamen vom Ende der Straße an per Boot hierher – genauer in Korjaals, den schmalen, rund 14 Meter langen Einbäumen, die die Maroons noch traditionell selbst bauen. Einziges Zugeständnis an die Moderne: Außenbordmotor und Schwimmwesten, dazu Polster für die Holzbänke, denn ein paar Stunden kommen schnell zusammen, wenn man auch nur einen kleinen Teil von Surinames grüner Welt erkunden will. Überhaupt: Suriname? Wo ist das denn? Selbst mancher Reiseerfahrene weiß nicht einmal genau, auf welchem Kontinent das Land liegt, das früher einmal Holländisch-Guayana hieß. Nur 732 Deutsche sind 2013 nach Suriname gefahren. Im Vergleich zu 88.000 Niederländern, deren Kolonie Suriname bis in die Siebziger war und von denen die meisten auf Familienbesuch sind.

Auf dem Wasserweg ins Innere

Der Oberlauf des Suriname River schiebt sich hinein ins tiefe Grün des Landes, gesäumt von Dörfern und Lodges, die fast ausschließlich in der Hand von Einheimischen sind und von sehr basic bis durchaus luxuriös reichen. Mittendrin mächtige runde Felsen, wie riesenhafte Kieselsteine. Wir passieren Stromschnellen und seichte Stellen, an denen alle aussteigen müssen. Der Fluss ist Verkehrsweg, Freibad, Dusche, Waschmaschine und Trinkquelle zugleich. Bei jedem Dorf waschen Frauen im Gewässer das Geschirr. Kinder spielen daneben, man betreibt Haarpflege. 17.000 Maroons leben hier am Fluss, 40.000 bis 70.000 sind es im ganzen Land.

In Goejaba wartet eine Gruppe Frauen an der Anlegestelle auf die Ankömmlinge. Gemusterte Tücher um die Hüften, über dem Po leuchtende Stoffdreiecke mit gestickten Motiven. Die Frauen stimmen einen A-Capella-Gesang an, klatschen und schwingen dazu nach rechts und links. Es ist ein Sakati, der an die Sklavenarbeit auf den Plantagen erinnert. Als sie sich nur singend unterhalten konnten, weil sprechen nicht erlaubt war. Sie lachen, umarmen uns, wir sollen folgen. Erst unterm Azan Pau durch, das ist eine Barriere aus Palmblättern, eine Art Böse-Geister-Abstreifer. Dann über Pfade, zwischen Holzhütten. Schnell ist vergessen, dass wir in Südamerika sind. Es fühlt sich an wie Afrika. Die Gerichte, die Kleider, die Häuser, die Götter, die Hautfarbe – alles afrikanisch. Vieles wurde hier im Schutz des Waldes bewahrt.

Was wir hier sehen, ist authentisch, keine Folklore. Die Frauen haben Eintopf gekocht, zeigen, wie sie Maniokfladen backen, ihr tägliches Brot. Sogar in eine der Hütten dürfen wir spähen: Maroons sind stolz auf ihr Geschirr – Kunststoffbecher und Blechtöpfe werden, als wäre es feinstes Porzellan, in Holzregalen mit Reling ausgestellt, immer blitzblank gespült. Auch der Dorfchef schaut vorbei, in der Hand einen Stock mit Silberknauf, den die Würdenträger von den Holländern als Amtsausstattung bekamen. Wie auch eine Uniform, die Kapitein Asodanae Baney aber momentan nur auf dem Foto seines Namensschildes trägt und die er eigentlich nur dann anzieht, wenn er zu einem offiziellen Termin nach Paramaribo fährt. Für den Alltag im tropischen Klima ist die Kamisa, das Tuch über seiner Schulter, definitiv die bessere Wahl. Er erzählt von den Problemen. Vom Benzin für die Generatoren, das irgendwie doch nie geliefert wird. Von seinem Amt kann er nicht leben, er baut Gemüse an und verkauft es auf dem Markt. Ein Ticket nach Afrika ist da leider nicht drin, aber zu gern würde er einmal ins Land seiner Ahnen fahren.

Weiter im Norden haben die Niederländer den Fluss zum Brokopondossee aufgestaut, um Strom für ein Aluminiumwerk zu produzieren. Skurril die riesige Fläche, aus der die Spitzen toter Bäume ragen. Man hat sich in den Sechzigern nicht die Mühe gemacht, den Urwald vorher abzuholzen. Von einer kleinen Siedlung neben der Staumauer fahren Korjaals ab, die Besucher, Bewohner und Minenarbeiter über den See bringen. Der Bootsführer steht auf dem Heck, um den besten Weg durch den mit Bäumen gespickten See zu finden. „Hände ins Boot“, heißt die Ansage, und das ist wirklich ernst gemeint. Krrck! Immer wieder ratscht ein Stamm an der Bootswand entlang – die traditionellen Boote sind glücklicherweise sehr stabil. Zudem beruhigend: Falls man schiffbrüchig wird, kann man sich an einem Baum festklammern, bis Rettung naht.

Schulbesuch im Dschungel

Wir laufen nach eineinviertel Stunden Spießrutenfahrt in Lebi Doti ein, spazieren durch den Ort. Ein Maroon geht an uns vorbei, dreht sich ungläubig um und meint: „Heute Nacht habe ich geträumt, dass Europäer kommen, zur Schule gehen und die Kinder durchs Dorf tragen!“ Zur Schule wollen wir wirklich, allerdings nur, um ein paar Kartons mit Kugelschreibern abzugeben. Norman Mac-Intosh leitet uns. Er ist surinamesischer Reiseveranstalter und kümmert sich beständig um gute Beziehungen zu den Maroons. Die Kinder auf den Bänken kichern. Nicht oft verschlägt es Ortsfremde hierher. Wie überall auf der Welt kritzeln sie auf die Blöcke, was ihnen so durch den Kopf geht. Ein Junge hat ausgiebig und in Schönschrift die Worte Gucci und Gaza hingemalt – ein luxuriöses Modelabel und eine Hardcoreband? Dass es die Kinder in Zukunft aus ihrem abgelegenen Dorf hinausziehen wird, scheint vorgezeichnet. Die einzige Abwechslung sind Videos, die sie abends auf den Bildschirmen anschauen.

Den Abend verbringen wir in einer Lodge auf Matu Island, einer winzigen Insel im See, die beim Überfluten übrig geblieben ist. Das Haus hat man aus den unter Wasser geschlagenen, toten Bäumen des Sees errichtet. Vor Sonnenuntergang wagen wir uns noch in die Fluten und dümpeln zwischen den Baumskeletten im See. So richtig sportlich schwimmen ist nicht angeraten, denn man möchte sich keine Baumspitzen in den Leib rammen. Nirgends ein Mensch, nur das Wasser und die kahlen Arme der blattlosen Bäume. Eine Art Endzeitstimmung, aber auf ihre Art durchaus reizvoll.

Jenseits der Staumauer, wo der Suriname River noch ein Fluss ist, liegen versteckt ein paar alte Sklavenhütten. Sie gehören zu Berg en Dal, der am weitesten im Landesinneren gelegenen Plantage des Landes. Ab hier begann die unkontrollierte Welt der Maroons. Heute betreibt die Moravian Church auf dem Gelände eine luxuriöse Öko-Lodge samt Adventure Park, der gleich bei den Hütten startet. Der letzte Bewohner stellt sich als Karlo Demidoff vor. Er ist tiefschwarz, trägt Dreads und lebt im Haus seiner Großmutter. Er gärtnert, liebt die Natur. Was der 56-Jährige von seinen Landsleuten nicht behaupten kann: „Die Surinamer lieben die Natur nicht, sie haben zu viel Grün um sich herum.“ Er erzählt von seinem Neffen, den es vor dem Bau des Ressorts noch jeden Sommer hierher zog. Und er sagt seinen Namen: Clarence Seedorf. Wie? Ja, der Fußballer. Man wähnt sich im Nirgendwo, und plötzlich wird es prominent. Tatsächlich sind die nahezu einzigen Surinamer, die man international kennt, Ballprofis: Auch Edgar Davids, Aron Winter und Jimmy Floyd Hasselbaink kommen aus Suriname, wobei die meisten sie für Niederländer halten.

Amazonas-Sedimente

Suriname ist kein Ziel für Strandliebhaber. An der 386 Kilometer langen Küstenlinie gibt es keine Badestrände, es dominieren Morast und Schlammbänke. Das Wasser ist von Sedimenten braun, die der Amazonas ins Meer und dann an die guyanische Küste spült. Besuchern geht es um den Regenwald, die Flüsse, die Natur. Auch um die Maroons und die Ureinwohner. Und um Paramaribo. Die Ethnienmischung des Landes wird nirgends augenfälliger als in der Hauptstadt. Javaner betreiben kleine Verkaufsstände auf Rädern, Inder verkaufen Fladenbrot, Chinesen alles mögliche. Moschee und Synagoge liegen Tür an Tür. Alle bestätigen, dass der Mix funktioniert. Hinterlassen haben ihn die Kolonialherren. Nach der Abschaffung der Sklaverei holten sie Arbeiter aus anderen Kolonien. Ein weiteres Andenken an die Kolonialzeit sind die Unesco-geschützten Holzbauten, von denen leider erst 15 Prozent saniert sind. In der Altstadt und am Hafen reiht sich eins ans andere. Davor schlendern Einheimische, trinken an Ständen Schaafijs, Limonade mit Eis, oder das lokale Parbo-Bier. Kinder spielen, Händler verkaufen Andenken. Ein paar Schritte weiter die Stelle, an der einst die Sklavenschiffe anlegten. Für Kaffee, Kakao und Zucker wurde viel geopfert, vor allem Menschlichkeit.

Wenige Stunden später dümpeln wir auf dem Commewijne, halten Ausschau nach Flussdelfinen. Breit und braun ziehen die Fluten dahin. Erst viele Kilometer weiter im Landesinneren wird der Fluss klar. Zu 96 Prozent, so der Guide, lassen sich die Tiere blicken. Wir gehören nicht zu den unglücklichen vier Prozent und freuen uns an ihren Rückenflossen. Am Ufer lag einst eine Plantage neben der anderen. Manche sind erhalten, und eine Handvoll stehen unter Denkmalschutz. Eine davon ist Frederiksdorp, wo das Boot jetzt anlegt. Gegründet von einem Preußen, wurde sie später ein Polizeiposten und verfiel schließlich. Bis die niederländische Familie Hagemeijer sie nach der Unabhängigkeit kaufte, dort zuerst Landwirtschaft, dann ein Hotel betrieb. Marcel Hagemeijer ist hier aufgewachsen. Fühlt es sich nicht seltsam an, dort zu wohnen, wo früher 200 Sklaven schuften mussten? „Wir haben diese Vergangenheit“, meint Marcel, der Suriname vor allem für seine funktionierende ethnische Mischung so liebt. „Wir müssen daraus lernen, aber wir können nicht in der Vergangenheit leben.“ So ist es im modernen Suriname möglich, bei den Maroons im Regenwald genauso wie auf den Plantagen der Kolonialherren Urlaub zu machen.

SURINAME-INFO

Anreise: zum Beispiel von Wien über Amsterdam nach Paramaribo. Die Strecke wird von KLM und Surinam Airways bedient.

Tipp – Stippvisite bei den Schildkröten:Tausende von Meeresschildkröten legen jedes Jahr an der Mündung des Marowijne River, dem Grenzfluss zu Französisch-Guayana, ihre Eier ab. Zu sehen sind sie von Februar bis August, je nach Art. Es kommen etwa Lederrückenschildkröten, Oliv-Bastardschildkröten, Suppenschildkröten und Echte Karettschildkröten an die Strände des Galibi-Nationalparks. Organisierte Touren gehen von Paramaribo mit dem Bus bis Albina, von dort zwei Stunden mit dem Boot den Fluss entlang. Übernachtet wird in den Dörfern der indianischen Ureinwohner, Christiaankondre und Langamankondre. Zweitagestour inklusive Transport, Guides, Verpflegung, Übernachtung 175 Euro, Dreitagestour 210 Euro. www.galibi-tours.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2017)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.