Land der Moore, Land der Bä(ee)ren, Waldfeen und Biber

Estland, das nördlichste baltische Land, verfügt über viel unverfälschte Natur – Strände, Wälder, Hochmoore, die sich ideal zum Wandern eigenen – im Mooren zum Beispiel mit Moorschuhen oder auf Stegen.
Estland, das nördlichste baltische Land, verfügt über viel unverfälschte Natur – Strände, Wälder, Hochmoore, die sich ideal zum Wandern eigenen – im Mooren zum Beispiel mit Moorschuhen oder auf Stegen. (c) imago stock&people (imago stock&people)
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Baltikum. Auf der Wiese Schlittschuh laufen? Durch den Wald paddeln? Im Moos ertrinken? Aus Espen Einbäume schnitzen? In den Wäldern die Orientierung verlieren? Klingt sonderbar, klingt aber sehr nach Estland.

Estland ist ein Land der Naturparks und der Wildnis, des freien Blicks und der individuellen Lebensentwürfe. Nicht mehr russisch, ganz gerne finnisch, nichts für Luxusreisende, aber höchst freundlich und hilfsbereit. Was man besser auch ist, wenn man in einem Land lebt, etwa so groß wie die Schweiz, aber mit nur einem Achtel der Einwohner, wo manchmal nur 50 Leute auf 40.000 Hektar leben. Dafür jede Menge Störche und anderes Gefieder, Wildschweine, Elche und Rehe. Und Biber. Platz haben sie genug, die Hälfte des Landes ist baumbewachsen. In den Nationalparks, die immerhin ein Zehntel des Landes schützen, hausen sogar Bären, Luchse und Wölfe, die man aber kaum zu Gesicht bekommt.

In den Städte wartet jahrhundertealte Architektur.
In den Städte wartet jahrhundertealte Architektur.(c) imago/robertharding (James Strachan)

Besonders einfach ist das Leben hier nicht, aber fröhlich versucht der Este, das Beste daraus zu machen. Unser Führer Aivar scheint ein gutes Beispiel zu sein. „Wir sind einfach flexibel und kompromissbereit.“ Und so erzählt er, wie sich die Menschen hier freuen, wenn man bei Überschwemmungen, die ungefährlich langsam und träge daherkommen, mit dem Boot zum Nachbarn durch den Wald Direttissima rudern kann. Das nennt man die „fünfte Jahreszeit“, in der man früher mit Einbäumen die Kinder in die Schule, Heu zum Vieh und Milch zu den Käsern gebracht hat. Diese Einbäume werden jetzt übrigens wieder „geschnitzt“. Aivar, der das vier Jahre bei einem alten Esten gelernt hat, erklärt, wie es geht: Der Espenstamm wird mit Hitze, Stöckchen und Geduld auseinandergedehnt, mit einem eigenen Hackmesser bearbeitet und dann mit Verstrebungen versehen. „Dauert etwa ein Monat.“ Dafür gibt es jetzt auch Kurse für „Einbaumeinsteiger“.

Hochwassereislaufen

Aber noch besser als Hochwasser, schwärmt er, sei gefrorenes Hochwasser. Dann könne man Schlittschuhlaufen wie auf einer riesigen Glasplatte, unter sich die festgefrorenen Grashalme. Das passiert allerdings selten und kann nicht geplant werden. „Das wird dann im Internet sofort verbreitet, und da kommen spontan sogar Japaner angeflogen.“

Einer, ebenfalls von Überschwemmungen begeistert, ist Algirdas, der stolz erzählt, dass er polnische, russische und sogar österreichische Soldaten-Wurzeln hat. Algirdas hat überall im Soomaa Nationalpark Pfähle mit den Hochwasserständen aufgestellt. „Weil man einfach nicht glaubt, wie hoch das werden kann.“ Bisher bis zu 5,7 Meter, über 175 Quadratkilometer verteilt, meist im März und April. Man lebt hier damit, muss damit leben. Deshalb hat man auch über die vielen Flüsse und Bäche Hängebrücken gebaut, allein hier sind es zwölf, die zwar ein wenig Mut erfordern, aber schon viele Hochwässer überdauert haben, und an denen Algirdas mitgebaut hat. Wie auch an den Stegen durch das Hochmoor: Die 25 Kilometer haben 15 Jahre gedauert.

Auch Schnee gibt es in Estland, nicht allzu tief, dafür liegt er aber von November bis April. Langlaufen ist sehr beliebt, ebenso Tretschlitten-Touren. Die Sommer sind kurz in dem kühlen Land mit viel Regen, in dem es selten „Hitzewellen“ von 25 Grad gibt, aber das scheint die Esten nicht zu stören. Im Gegenteil.

Eine Wahl-Estländerin aus Hamburg findet den Sommer viel zu anstrengend. Die Hanseatin war vor 16 Jahren für ein „Freiwilliges Ökologisches Jahr“ zum ersten Mal nach Estland gekommen und hatte nach ihrem Geo-Ökologie-Studium in Viljandi eine Tipu Nature School aufgebaut hat, gedacht für Schulkinder-Ausflüge und gerne besuchte Ferienlager (die Sommerferien dauern hier drei Monate). „Die Insekten nerven“, klagt sie. Stechmücken und Bremsen, die sich vor allem im Juni und Juli auf ihre Opfer stürzen. Und wieder reagieren die Esten stoisch, sie sind es gewöhnt und die Stiche jucken sie nicht.

In Mooraugen baden

Diesen unerfreulichen Viechern kann man auch im Sommer bei einer Wanderung durch die riesigen Hochmoore entgehen, einer schon selten gewordenen Landschaft, die sich in Jahrtausenden über wasserundurchlässigen Lehmschichten gebildet hat. Das größte Torfmoor Estlands liegt im Naturpark Soomaa, was ja Sumpfland, Moorland bedeutet. In Hochmooren gedeiht wegen des sauren, hohen ph-Werts und Sauerstoffmangels kaum etwas außer Torfmoos – und das nur mühsam mit einem Millimeter Wachstum pro Jahr. Das Soomaa-Moor ist etwa fünf Meter tief, also schon einige Zeit gewachsen. Einige „Bauminseln“, so genannte Bülten, gibt es doch in der eigenartigen, gespenstischen Landschaft, kümmerliche Fichten, die ebenfalls nur Millimeter pro Jahr zulegen. Und Mooraugen (Moorkolke), die für ihr weiches Wasser berühmt sind, in denen die abgehärteten Esten gerne schwimmen. Dazu wurden hölzerne Plattformen und Einstiegsleitern gebaut, um aus den Tümpeln auch wieder bequem herauszukommen – bei sommerlichen Hochmoorwanderungen unbedingt Badeanzug und Handtuch mitnehmen. Wandern kann man übrigens auch abseits der Holzstege mit Moorschuhen (sehr ähnlich Schneeschuhen), dafür empfiehlt sich aber ein Führer. Die Wege sind sehr gut beschildert und in drei Sprachen, Englisch, Estnisch und Deutsch, beschriftet. Aivar liebt das Moor: „Die Stille, die Ruhe, das Gefühl von 10.000 Jahren unter einem, von etwas Bleibendem.“ Rund um Hochmoore wachsen Beeren in Überfülle, Heidelbeeren, Preiselbeeren, Brombeeren, Himbeeren, sogar Moltebeeren, die man bei uns nicht kennt, und die eine besonders gute Marmelade ergeben. Und natürlich Pilze, ein Lieblingshobby der Esten. Wie übrigens auch Kanufahren, ein wunderbares Erlebnis, das jeden entspannend still werden lässt. Die Flüsse sind träge und spiegelglatt, und wer in der Dämmerung aufmerksam dahingleitet, kann immer wieder Biber entdecken, die, wenn man sich nähert, mit lautem Klatschen ihres Schwanzes auf die Wasseroberfläche ihre Genossen warnen und abtauchen.

Unverfälschte Natur

Estland, am Rande des Weltgeschehens gelegen, hat sich durch die langsame Entwicklung und durch nur wenig Industrie viel unverfälschte Natur erhalten, die jetzt gut vermarktet werden kann – mit der „Weltmeisterschaft im Orientierungslauf“ zum Beispiel, wofür sich die endlosen Wälder ideal eignen. Übrigens auch für Neulinge, die mit Kompass und Karte sich orientieren lernen wollen, eine wunderbare Möglichkeit, die Natur plötzlich wieder ganz anders zu erleben.

Da kann man verstehen, wie man an Geister glauben lernte: „Wo die Äste eines Baumes wie Hände eines Menschen aussehen oder die langen Moose dem im Wind wehenden Haar gleichen, da ist die Waldfee in deiner Nähe. Wenn sie die Form einer Espe angenommen hat, rauscht sie derart mit den Blättern, dass der Mensch glaubt, Wörter zu hören. Und wenn sie als Vogel singt, scheint es dem Menschen, er könne diesen Gesang verstehen“, schildert Aivar.

Doch es gibt auch Städte zu bewundern im Südwesten von Estland. Zum Beispiel Pärnu, das sehr an die Bäderarchitektur in Norddeutschland erinnert. Kein Wunder, war sie doch einst eine Hansestadt und ein beliebtes Seebad, berühmt für heilende Schlammpackungen. Alte Stadtmauern sind noch erhalten, mit dem Königstor, dem älteste Stadttor im Baltikum aus dem 17. Jhdt. Und Protzvillen reicher Händler, wie die Villa Ammende, 1905 von einem Deutschen errichtet, der keine entsprechenden Räumlichkeiten für den Hochzeitsempfang seiner Tochter finden konnte und sich selber welche baute.

Heute wird man in dem perfekt renovierten Hotel von einem nasalen Concierge empfangen, der jedem Schloss Ehre machen würde. Ein drei Kilometer langer Sandstrand, Parkpromenaden und etwas abgewohnte Art Nouveau-Erholungsanlagen, alte, traditionelle Holzhäuser (auffallend die vielen liebevoll gestalteten Holztüren) und natürlich das Kurhaus, um 1900 Zentrum der vornehmen Gesellschaft, machen die kleine Stadt zu einem netten Ausgangspunkt für Ausflüge in die Natur.

Tallin, die Hauptstadt am Finnischen Meerbusen, war die wichtigste Handelsstadt der Ostsee, eng verbunden mit Lübeck und den anderen Hansestädten. Als Unesco-Weltkulturerbe ausgezeichnet – „ein außergewöhnlich vollständiges und gut erhaltenes Beispiel einer mittelalterlichen nordeuropäischen Handelsstadt“ – ist sie auch für einen reinen Städtetrip interessant. Als eine der Kulturhauptstädte Europas 2011 lockt sie mit vielen kleinen Gässchen im mittelalterlichen Zentrum. Kulinarisch interessant, nett zum Mäandern zwischen den vielen kleinen Handwerks-Shops, ein angenehmes, interessantes Städtchen.

MOOR-ABENTEUER

Info: Von Mai bis Mitte Oktober gibt es ein geführtes Programm im Sooma Nationalpark. 6 Nächte, Bibersafaris, Padeltouren, Moorwanderungen, geführt netten und kenntnisreichen Aivar, der einem auch das Einbaumbauen zeigen kann: abenteuer-flusslandschaft.de/reisen/angebot/paddeln-und-moorschuh-wandern-in-estland.html

Das Gästehaus im Soomaa Nationalpark in Riisa erreicht man direkt über: Riisa Rantso, http://riisarantso.ee/ riisarantso@riisarantso.ee

Aivar kann auch direkt kontaktiert werden: aivar.ruukel@gmail.com

Compliance-Hinweis: Die Reise wurde von visitestonia.com finanziert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.02.2018)

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