Yad Vashem: Jeder Name zählt

Die Halle der Namen in Yad Vashem: Ort des Gedenkens über Generationen hinaus.
Die Halle der Namen in Yad Vashem: Ort des Gedenkens über Generationen hinaus.Abir Sultan/EPA/picturedesk.com
  • Drucken

Das World Holocaust Remembrance Center in Jerusalem gehört zu den anrührendsten Gedenkstätten der Welt und ist zugleich ein Museum, ein Archiv und eine Forschungsstätte.

Gabor Neumann – drei Jahre–Ungarn“, „Valentina Zbar – sechs Jahre – Ukraine“, „Baruch Goldenberg – sechs Jahre – Polen“, eine Stimme vom Tonband verliest fortwährend Namen, Alter und Herkunftsorte der im Holocaust ermordeten Kinder. Drei Monate dauert es, bis alle 1,5Millionen Namen verlesen sind. Besucher verlieren beim Betreten des unterirdischen Denkmals für die Kinder, dem Children's Memorial, die Orientierung. Der Raum ist stockdunkel, es brennen unzählige kleine Lichter. Tatsächlich handelt es sich dabei um nur fünf brennende Kerzen, die sich in den Glaswänden zigfach spiegeln und den Raum in eine Art Sternenhimmel verwandeln.

Der plötzliche Wechsel von außen nach innen führt zur Desorientierung. Eine Gruppe älterer Besucher tastet sich am Handgriff bis zum Ausgang entlang. Draußen, auf dem Dach des Raums, ragen abgebrochene Stelen in den blauen Himmel auf. Die Gedenkhalle für die Kinder wurde mit Spenden des Ehepaars Abraham und Edita Spiegel, deren Sohn Uziel mit zweieinhalb Jahren in Auschwitz ermordet wurde, errichtet.

Die Summe der Schicksale

Yad Vashem ist Hebräisch und bedeutet „Ein Denkmal und ein Name“. Die Gedenkstätte in Jerusalem gleicht einem Park, der über die Jahrzehnte gewachsen ist. Mindestens drei Stunden Zeit und gutes Schuhwerk sollten Besucher mitbringen, denn wer auch die entlegenen Gedenkorte aufsuchen möchte, legt auf diesem weitläufigen Gelände einige Kilometer zurück.

Yad Vashem beleuchtet als World Holocaust Remembrance Center den Völkermord aus allen erdenklichen Perspektiven: Die Gedenkstätte zeigt die Werke jüdischer Künstler, die zurzeit des Holocaust entstanden sind, in einem eigenen Kunstmuseum. Sie zeigt Teddys und Puppen von heute über 80-Jährigen, die als Kind überlebt und diese gespendet haben. Sie dokumentiert mit der Allee der Gerechten unter den Völkern den Einsatz von Nichtjuden, die Juden während des Nationalsozialismus gerettet haben. Es gibt ein Denkmal für die jüdischen Partisanen und Soldaten und auch eine Art steinernes Labyrinth, das an die jüdischen Gemeinden erinnert, die von den Nazis ausgelöscht wurden.

Gedenkblätter, viele noch leer

Gleich nach dem Besucherzentrum am Eingang starten die meisten Besucher mit dem Geschichtsmuseum. In der multimedialen Ausstellung erhalten die jährlich zwei Millionen Besucher aus aller Welt das nötige Basiswissen, um das Ausmaß des Holocaust ansatzweise überhaupt zu verstehen. Aber auch geschichtlich sehr gebildete Europäer können dort Neues erfahren: Zeitzeugen berichten in Videosequenzen von ihrem Überleben im Ghetto, darunter beispielsweise auch der 2013 verstorbene Marcel Reich-Ranicki. Am Ende der Ausstellung folgt unmittelbar die sogenannte Halle der Namen. Dieser eindrucksvolle runde Saal gleicht einer Bibliothek, in deren Wandregalen Hunderte schwarzer Bücher stehen. Sie enthalten alle bisher eingereichten Gedenkblätter der im Holocaust ermordeten Juden. Diese als „Pages of Testimony“ bezeichneten Dokumente beschreiben die Herkunft und die Todesumstände und stehen als virtueller Grabstein für jedes einzelne Schicksal. Sie sind nach deren Überprüfung auch über die Website der Gedenkstätte einsehbar und sorgen übrigens auch heute noch für Familienzusammenführungen.

Angehörige und Freunde von Opfern haben bereits drei Millionen solcher Gedenkblätter ausgefüllt, doch ein großer Teil der Regale steht noch leer. Von den Familien, die komplett ermordet wurden, gibt es keine Nachkommen. Die Recherche wird für die Gedenkstätte mit jedem Jahr schwieriger.

Bücher in die ganze Welt

Heute noch besuchen sowohl Holocaust-Überlebende als auch deren Kinder, Enkel und Urenkel der ermordeten Opfer die Gedenkstätte. Wer genauer schaut, sieht immer wieder Besucher, die offenbar einen persönlichen Bezug zur Shoah haben. So sitzt eine Frau auf einem Stuhl in dem kleinen Buchladen gegenüber dem Kunstmuseum, die offensichtlich um Fassung ringt.

Der Laden verkauft Literatur über den Holocaust und bietet an, diese Bücher kostenlos weltweit nach Hause zu schicken. Besagte Frau, eine vielleicht 40 Jahre alte Deutsche, hält denn auch auf ihrem Schoß ein dickes Buch mit dem Titel „Zeugnisse des Holocaust – Gedenken in Yad Vashem“, in das sie etwas schreibt. Die Buchhändlerin reicht ihr ein Taschentuch, bietet ihr ein Glas Wasser an und sagt mit einem Lächeln: „Ich habe schon viele gerettet.“ Yad Vashem sei ein sehr spezieller Ort, meint sie, an dem nicht jeder arbeiten kann.

Die Besucherin erzählt, dass ihr Großvater in Buchenwald und zwei weitere Verwandte in Auschwitz ermordet wurden. Für den Großvater existiert bereits ein Gedenkblatt, für die beiden anderen habe sie diese vorhin im zuständigen Büro auf dem Gelände abgegeben. Sie berichtet, dass ihre Mutter, deren Vater in Buchenwald gestorben ist, sich mit 80Jahren einer Reise nach Israel nicht mehr gewachsen fühlt. Nun werden sie also ihrer Mutter dieses Buch schicken, welches sämtliche Ausstellungen in Yad Vashem zusammenfasst – direkt als Gruß von der Gedenkstätte mit der Widmung „Liebe Mama, da du nicht nach Yad Vashem reisen kannst, kommt Yad Vashem zu dir“.

ISRAEL-INFO

Yad Vashem, the World Holocaust Remembrance Center: großes Areal mit vielen Orten der Auseinandersetzung – Museum, Halle der Namen, Denkmälern, Kunstmuseum, Synagoge, Bibliothek in Jerusalem. Wer von Holocaust-Opfern weiß, kann in der Datenbank überprüfen, ob für sie bereits ein Gedenkblatt existiert. Dieses kann online eingereicht werden, muss aber noch als Original unterschrieben und per Post direkt in die Gedenkstätte geschickt werden. Mehr auf: www.yadvashem.org

Info: Ministry of Tourism, www.goisrael.de

Anreise: Ab Wien mit El Al oder Austrian direkt nach Tel Aviv, von dort etwa eine Stunde mit Bus oder Mietwagen nach Jerusalem.

Unterkunft: Hotel Mount Zion in Jerusalem: gepflegtes Viersternehotel in zentraler Lage, tolle Aussicht, sehr gutes Frühstück, netter Pool. www.mountzion.co.il

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.