Taipeh: Die Luft ist rein, und alles fließt

Garde am CKS-Memorial
Garde am CKS-MemorialReuters
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Vor 30 Jahren gab es außer Sinologiestudenten kaum Ausländer. Heute ist Taiwan ein attraktives Touristenziel. Ein Vergleich.

Erster Direktflug von Wien nach Taipeh. In zwölf Stunden werden wir landen. Die Zeit verschiebt sich merklich. Es ist Nachmittag, sagt die Uhr, hinter dem Fenster geht die Sonne unter. Als wir ankommen, ist es zu Hause bald Mitternacht, hier sechs Uhr morgens. Der Himmel über Taipeh ist rosa. Jetzt muss der Körper mit der gestauchten Zeit und dem Schlafmangel fertig werden. Noch aber staune ich. Als ich in den späten 1980er-Jahren als Sinologie-Stipendiatin nach Taiwan ging, strandete ich in einer öden Halle, die vielleicht noch trister wirkte, weil ich mit Zwischenstopps 36 Stunden Flug hinter mir hatte. Der neue Airport ist klinisch rein, mondän.

Wir fahren mit dem Bus in die Innenstadt. Das Chiang Kai-shek Memorial scheint gewachsen zu sein seit damals. Der Eindruck täuscht natürlich. Es ist ein weißer, viereckiger Bau, den man über viele Stufen erklimmen muss, mit einem dunkelblauen Dach – chinesisch anmutend. Chiang Kai-shek starb 1975, fünf Jahre später war das Memorial fertig. Drin sitzt Chiang als Statue auf einem Stuhl, lächelt milde auf seine Untertanen herab, ein säkularer Buddha. Es ist Wachablöse der Soldaten. Sie vollführen eine Choreografie mit militärischen Schrittformen. Die Soldatenpolonaise wirkt mäßig martialisch, auch weil die Waffen wie Lego-Plastikgewehre aussehen.

Nach der Vorstellung strömt alles hinaus, in die Sonne, das Licht. Drinnen posieren die Soldaten, draußen die chinesischen Touristen, mit und ohne Selfiestick. Der weiße Kasten wird von einem Park eingerahmt. Zwischen den Stufen und dem Haupteingang liegen zurechtgestutzte Rabatten sowie eine Konzert- und eine Theaterhalle, die die Paläste der Verbotenen Stadt imitieren. Biegt man in den Park ab, schlängeln sich kleine Wege durch Bäume und Sträucher. Es ist Sonntagmorgen, ein guter Tag für die darstellende Kunst. Einige Alte haben sich auf einem kleinen Platz zusammengefunden, eine Karaokemaschine angeworfen und singen mit brüchiger Stimme.

Am Haupttor sollte der Bus warten. Er steht nicht da. Die Straße ist gesperrt, es gibt ein Radrennen. Radrennen? In Taiwan? Ja, und es ist eine besondere Herausforderung, sagt Lily, unser Guide. Die Teilnehmenden fahren hinauf in die Berge, dreitausend Höhenmeter sind zu überwinden.

Chiang Kai-shek Memoria im Jahr 1975
Chiang Kai-shek Memoria im Jahr 1975Imago

Pragmatische Lösungen

Bei uns gibt es keine Hindernisse – wir kommen zügig ins Hotel. Auch das ist neu. Einst waren die Straßen zu jeder Tages- und Nachtzeit verstopft. An den Kreuzungen fuhren die Fahrzeuge gleichzeitig auf die Mitte zu, dort entstand eine Pattstellung, ein gordischer Knoten. Zu Stoßzeiten war es verboten, links abzubiegen, um den Verkehrsfluss – welchen Fluss? – nicht zu behindern. Doch es wäre nicht Taiwan, hätte man dieses Problem nicht gelöst, immerhin wurden in China Papier, Schießpulver, Buchdruck und so vieles mehr erfunden. Die Lösung also bestand im geradeaus fahrenden Linksabbiegen. Man lenkte das Fahrzeug bis zur Mitte der Kreuzung, stellte es quer, als wolle man auf der linken Straßenseite einparken, schob zurück und fuhr dann geradeaus. Heute ist der Verkehr sauber geregelt. Überhaupt ist alles sauber. Auch die Straßen und der Gehsteig. Anders als vor fast 30 Jahren.

Nach wenigen Wochen gingen vielen damals die Haare aus. Auch mir. Es gab Gerüchte. Ursache sei das Glutamat in Speisen. Man habe Fässer mit Giftmüll vor der Südküste im Meer versenkt, die leckten und verseuchten die Insel. Es sei der saure Regen. Wirklich wurde die Bevölkerung angehalten, bei Schlechtwetter Kappen zu tragen. Ich ging in die Apotheke. Der Haarausfall sei ein psychisches Problem, sagte die Apothekerin. Ich probierte es bei einer anderen. „Kenn ich“, sagte die dortige Pharmazeutin, schob den Holzperlenvorhang zur Seite und rief nach ihrer Tochter. Die schüttelte ihr Haar, präsentierte kahle Stellen.

„Kommt vom Regen“, sagte die Apothekerin. Was ich nun tun sollte, fragte ich. Ein bedauernder Blick. Was kann man schon tun gegen den Regen? Ganz ungetröstet wollte sie mich dennoch nicht ziehen lassen. Sie förderte – wie damals in den Apotheken Taiwans üblich – ein quadratisches Papiertuch zutage und drückte Tabletten aus verschiedenen Blistern heraus: sechs weiße, vier rosafarbene und drei bunte Kapseln. Sie nahm die Enden des Tuchs, drehte es zu einem Päckchen zusammen. Und sie behielt recht: Die Tabletten bewirkten nichts. Wozu also eine ganze Packung vergeuden? Und Beipackzettel? Wer sollte über die Art der Einnahme besser Bescheid wissen als sie, die Apothekerin, die das studiert hatte? Heute werden Medikamente in geschlossenen Schachteln verkauft.

Vielleicht fielen mir nicht wegen des Regens die Haare aus, sondern wegen der Luft: Man scheute sich einzuatmen, konnte Staub und Dreck förmlich riechen. „Ach“, sagten die Taiwaner damals, „ihr beklagt, dass die Luft so schlecht ist, aber wir sind das gewöhnt“, stiegen fröhlich auf ihr Moped, unbehelmt natürlich, packten den Rest der Familie darauf und stürzten sich ins Gewühl.

Taxifahren – ein Abenteuer

Wo sind die Menschen heute? Viele in der U-Bahn, sechs Linien, alles übersichtlich und gut beschriftet, in Englisch und Chinesisch. Die U-Bahn ist voll, dennoch drängt und stößt niemand. Damals, in der Vor-U-Bahn-Zeit, war es in der Früh und abends nur möglich, in den Bus zu gelangen, wenn man mit der Masse hineingespült wurde. Manchmal fuhren wir Taxi. Beides hatte Abenteuerpotenzial. Hatte der Fahrer gerade Betelnüsse gekaut, erreichten wir schnell das Ziel – oder gar nicht. Die Hektik von damals scheint sich wundersam aufgelöst zu haben. Die Menschen hasten nicht, sie schlendern: entspannt durch die attraktiven Einkaufszentren, etwa den Kultur- und Kreativpark Songshan, eine alte Fabrik, die zum Designzentrum umgebaut wurde. Hier findet man Kunsthandwerk, Kleidung, Taschen, stylish, aber relativ günstig. Nebenan ist Taiwans größte Buchkette, die 24 Stunden geöffnet hat. Auch hier ist es inzwischen schwieriger, mit Büchern Geld zu machen, so verkauft die Kette nun auch andere Waren. Im Erdgeschoß der Mall offerieren kleine Boutiquen Topmode aus Taiwan, auch ein Pop-up-Store ist darunter.

Besser als perfekt

Wer internationale Marken sucht, wird in Taiwans höchstem Gebäude, Taipei 101, fündig. Die Zahl Hundert bedeutet im Chinesischen Vollkommenheit, 101 signalisiert also, dass man besser als perfekt sein wollte. Im Tower selbst Luxus pur, Tag-Heuer-Uhren neben Haute Couture. Gab es auch damals. Nicht nur Rolex-Uhren, sondern auch Mode von Yves Saint Laurent oder Pierre Cardin. Bloß dass in diesen Uhren damals kein Schräubchen einer echten Rolex entstammte und die Pierre-Cardin-Blusen die Fertigungshallen von Cardin nie gesehen hatten. Die echten allerdings standen auch in China, und manchmal war kaum zu unterscheiden, ob die Nähte von einer Frau Hu in Taiwan oder einer Frau Wang in einem Sweatshop der großen Modefirmen gemacht worden waren.

Im Taipei 101 kann man ausgezeichnete Dimsum speisen, und bevor man sich zu Tisch setzt und die verschiedenen Täschchen in den Körben verkostet, sieht man den Köchen zu, die mit Mundschutz ihre Arbeit verrichten. Einer schneidet den Teig ab, einer rollt ihn aus, ein dritter spachtelt die Füllung hinein und wiegt ab. Nur wenn das Verhältnis stimmt – fünf Gramm Teig, 16 Gramm Füllung – darf der Letzte in der Runde den Teigkreis verschließen, in Kärnten hieße das krendeln.

Wer in Taipeh ist, muss sich das National Palace Museum anschauen. Jedes Mal wieder. Dort lagern die Schätze der Verbotenen Stadt – an die 700.000 Exponate. Um die Artefakte zu schützen, werden sie nur drei Monate ausgestellt, dann kommen sie zurück in die Dunkelheit oder zum Restaurieren. Vor 30 Jahren waren die Säle bis an die Decke mit Gegenständen vollgestopft, ohne erkennbare Ordnung. Heute sind es übersichtliche Räume, schön gegliedert in Themenkomplexe, zu denen es auch einzelne Ausstellungen gibt, etwa das alte Buch. Wir starren ehrfürchtig auf ein Werk des berühmten Philosophen Su Shi. Aber nicht lang, zu vieles noch harrt der Entdeckung. Die ältesten Exponate sind Sakralgegenstände, Krüge aus der Bronzezeit, dreibeinige Opfergefäße. Zwischen den Beinen brannte das Feuer, während das Opfertier im Topf darüber gekocht wurde. Verschwendet wurde nichts, das Tier – meist Schwein oder Ziege – wurde verzehrt.

Kohl aus Jade

Natürlich dürfen auch die berühmtesten Artefakte – der Kohl und das Stück Speck aus Jade – nicht fehlen, das wäre so, als ließe man die „Mona Lisa“ im Louvre aus. Beim Kohl hat der Künstler die Färbung des Steins genützt, so ist er oben grün und unten weiß. Im Grünen sitzen zwei Heuschrecken, Symbole für Fruchtbarkeit. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich Speck und Kohl damals gesehen habe. Jedenfalls waren sie noch nicht die „Mona Lisa“.

Des Latschens müde, kann man sich bei einem Tässchen Tee oder zwei oder drei entspannen. Die berühmte Zeremonie beinhaltet mehrere Durchgänge. Riechen, trinken, wieder riechen. Auch der leere Becher verströmt ein betörendes Aroma – nach Honig und Gras und Rinde und Bäumen – nach asiatischem Savoir-vivre. Frisch gestärkt wieder einkaufen oder zumindest schauen, was es gibt. Schon damals fuhren wir dazu nach Ximending. Das Geld, das wir als Models verdienten, wurde umgehend zu Nightmarket getragen. Ja, wir waren damals Models. Aus dem Westen zu stammen, genügte, um ein Engagement zu bekommen. Ximending sah anders aus, die Häuser älter, einstöckig mit Balkonen.

Man fand: alles. So wie heute. Kleine und größere Geschäfte, Designerware und Kitsch und natürlich Elektronik – Taiwan ist der Sitz zweier großer Laptophersteller, Acer und Asus. Im Red House, einem roten Ziegelbau aus dem 19. Jahrhundert, gibt es wieder lokales Design zu moderaten Preisen. Eine andere solche Einkaufsstraße ist die von Yongkang. Folgt man ihr bis zum Ende, kommt man zu der Uni, an der ich studierte. Auch hier ist alles anders geworden. Aus der kleinen Straße, die vis-à–vis in die Hauptstraße mündete, wurde eine breite. Damals reihten sich dort Obststände aneinander, in den Lernpausen aßen wir frische Ananas, Papaya, Mango, Sternfrucht – fein geschnitten. Gab es auch zum Mitnehmen. In Styroporschachteln. Heute wird Essen in Kartons verpackt.

Die Erfahrungen von einst decken sich nicht mit jenen heutiger Expats. Gabriele Seewald lernte in Peking Chinesisch und lebt jetzt in Taiwan. Die Lebensqualität hat sie überzeugt. Ihre Wohnung liegt in Tian Mu, einem schönen Wohngebiet im Norden der Stadt. Sie zeigt uns die sehenswerte Shidong-Markthalle. Im Erdgeschoß werden Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch verkauft. Im Obergeschoß sitzen die Menschen und essen, was aus den Lebensmitteln des Markts zubereitet wird. Frischer geht es nicht. In beiden Stockwerken wird ständig geputzt, man könnte vom Boden essen. Gemüse und Obst sind eingeschweißt oder appetitlich in Körben drapiert. Obwohl die Halle überdacht ist, stinkt es nicht.

Partner- und Kinderwunsch

Bevor wir nach Hause fliegen, besuchen wir den größten Tempel von Taipeh, den Longshan. Es ist wieder Sonntag, viel los, eine Prozession zieht an uns vorüber. Der Eingang des Tempels ist für seine Bronzesäulen berühmt. Eine Reihe von Szenen ziehen sich die schlanken Steher hinauf, Reiter, Tiere, die hinaufkriechen, als wäre es ein Baumstamm. In der Großen Halle des Tempels thront Guanyin, ein Bodhisattva, der im Lauf der Zeit das Geschlecht gewechselt hat und nun als weibliche Gottheit verehrt wird. Schon im vormodernen China wurde Guanyin angerufen, wenn man sich Kinder wünschte. Auch heute pilgern die Paare hierher.

Wird es ein Mädchen, bedankt man sich bei Guanyin mit einem Strauß Blumen. Ist es ein Bub, wird eine kleine Kiste geopfert. Darin sind ein Hühnerfuß und zwei rosa gefärbte Eier auf weißen Reis gebettet, sie symbolisieren die Geschlechtsteile. In der linken Ecke im hinteren Teil staut es sich. Jugendliche stehen vor einem der Seitenaltäre und werfen ihre roten Gebetsblöcke zu Boden. Wird es etwas mit einer Liebschaft oder ist die Zeit für den richtigen Partner noch nicht reif? Etwas später wird gesungen. Mönche und Nonnen schlagen Trommeln. Die Menschen stehen still und singen. Wer den Text nicht kann, liest in einem Buch mit. Wir stören die Andacht nicht länger, sondern setzen uns in den Bus. In einem schicken Restaurant, das sich Fleisch nennt, essen wir zum letzten Mal zu Abend.

Was wäre gewesen, wäre ich geblieben? Mein Chinesisch wäre nahezu perfekt, meine Kinder wüchsen zweisprachig auf. Und wie hätte sich meine Modelkarriere entwickelt? Wäre ich inzwischen die ziemliche beste Freundin von Heidi Klum? Eher nicht. Es gibt sie – die kahlen Models. Doch die Nische ist eng. Ich hätte nicht hineingepasst.

TAIPEH: LUXUS FÜR GÄSTE

Hin: Mit EVA Air Wien–Taipeh, täglich, Mo, Do, Sa nonstop, www.evaair.com

Essen: Dimsum im Din Tai Fung im Taipeh 101, unbedingt reservieren, www.dintaifung.com.tw

Silks Palace beim Palastmuseum, www.silkspalace.com.tw

Typische Taiwan-Küche im Feng Sheng, 1–3, Lishui Street, Tel. +886/2 2396 11 33

Schlafen: The Sherwood, Fünf Sterne, U-Bahn-Nähe, www.sherwood.com/tw

The Grand Hotel: von Chiang Kai-sheks Frau initiiert, www.the-grand-hotel-taipei.com

Tipp: Die Autorin schreibt China-Krimis, z. B. „Langer Marsch“ im Löcker-Verlag

Info: www.taiwantourismus.de

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2018)

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