Island: Wie machen sie das nur?

Geysir in Island
Geysir in Island(c) Markus Kirchgessner
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Drei, vier Beschäftigungen nachzugehen ist ganz normal für Isländer. Vielleicht liegt das auch an ihrem ganz anderen Nachtleben.

Gisli sieht aus wie ein Bär. Auf dem T-Shirt, das seinen umfangreichen Bauch umspannt, steht „Kaldi“: Er ist Sohn eines Fischers. Man könnte meinen, Gisli ließe in seiner Leibesfülle das Volumen seines Geschichtenreichtums erkennen, vor dem er munter sprudelnd überquillt. Während der verbleibenden siebzehn Minuten, bevor die Fähre nach Hrísey ablegt, düst er die Küstenstraße in Richtung Norden. Er gibt, begleitet von Bariton-Lachen, die traurige Geschichte des blinden und verbannten Königs von Norwegen zum Besten, dem zur Ehre sogar eine kleine Kirche links der Straße errichtet wurde. „So sieht's aus, jawohl – Island hatte mit ihm einen König!“

Ein Blitzbesuch der Hallen der Kaldi-Brauerei in Bruggsmiđjan passt noch schnell, bevor das Schiffchen ablegt. Gisli geht auf der Insel Hrísey ein und aus, als handle es sich um die heimische Wohnküche. Er nimmt die Speisung im Heimatmuseum des Inselchens mit, da der Stockfisch dort unvergleichlich ist. Danach spaziert er durch die Baustelle von Simmi, Wirt der besten Bar Akureyris. Mit einer Selbstverständlichkeit öffnet die Türen zu scheinbar fremden Häusern, ganz wie daheim. Eigentlich jedoch ist er Opernsänger. Stand auf den Brettern der Met und zieht die Akustik baltischer Kirchen einem Auftritt in der Mailänder Scala vor.

Bei Akureyri werden am Ende des Sommers die Schafe von den Bergen heruntergetrieben und auf die Besitzer verteilt.
Bei Akureyri werden am Ende des Sommers die Schafe von den Bergen heruntergetrieben und auf die Besitzer verteilt. (c) Markus Kirchgessner

Des Teufels Urin

Eyrun bäckt Brot in der „Earthbakery“, ein ganz spezielles isländisches Vergnügen. Im wahren Leben ist sie Grafikdesignerin. Aber nur im Winter. Manchmal auch Innenarchitektin. Ein Metier, für das Island bisher unbekannt ist. Islands Designer wagen nämlich, sich mit spielerischem Understatement vom nordischem Ikea-Mainstream deutlich abzuheben. Gäste der Icelandair-Hotels können sich ein Bild davon machen.

Im Sommer organisiert und begleitet Eyrun Touren ihrer eigenen Agentur. Egal ob per Rad, zu Fuß oder im Flugzeug – um den Myvatn und zu den Vulkanbergen. Sie kennt jeden Lavatunnel am Myvatn, dem Mückensee, einst gefüllt durch des Teufels Urin. Sie respektiert die Launen des Vulkans Bárđarbunga und weiß um die Historie dessen Kollegen.

Arndis Soffia Sigurdardottir führt in der Mitte von Smáratún ein Hotel der besonderen Art. Es liegt im sogenannten Ortskern der auf einem Gebiet von 20 mal 20 Kilometern sich lose verteilenden circa zehn Weilern. Unscheinbar sind die kleinen Holzhäuschen des Hotels in die Landschaft gestreut. Das Hauptgebäude versprüht den Charme eines billigen Modulbaus, ganz im Gegensatz zu dem, was die Herberge inhaltlich als Programm bietet. Arndis' junges Leben füllt schon Seiten sonst später geschriebener Lebenswerke, da sie als Anwältin einen der spektakulärsten isländischen Kriminalfälle aufdeckte. Derzeit freut sich die Umweltaktivistin über die Gäste, die sie und ihre Pferdeausflüge zu schätzen wissen.

In einem Land wie Island, in dem ab 2010 Jón Gnarr, ursprünglich Komödiant und Mitglied einer Spaßpartei, vier Jahre lang der beste Hauptstadt-Bürgermeister aller Zeiten war, würde sich Karl Marx noch post mortem verwirklicht sehen. Was ein Großteil der Menschen in Island realisiert, ist in etwa das, was der Philosoph und Ökonom mit einem seiner berühmten Sätze formulierte. Er skizzierte eine Gesellschaft, in der „jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, [. . .] heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“

Wie machen sie das nur?

Diese Isländer. Wann schaffen sie das alles? Und überhaupt, wenn man so viel anpackt, kann da etwas Anständiges dabei herauskommen? Die einfachste Antwort zunächst: Die Isländer tun einfach! Und fragt man einen so selbstbestimmten Isländer, wie das funktionieren kann, heißt es mit einem verschmitzten Stolz: „Wir sind ein junges Land! Unsere Eltern bauten auf: Häuser, Firmen, Interesse für Kunst und Kultur, wir können daraus so viel machen“, meint Arni, und das tut er auch. Seine Berufung reicht von Kuhbauer – in Arnis Wohnzimmer hängt ein überlebensgroßes Porträt von Arnis Lieblingskuh, eine lachende Kuh, lebensfroh wie der Bauer selbst – über Hörgeräteakustiker bis zu Barbesitzer. Zudem ist er Vater von drei Kindern und aktuell Mikrobrauer von Gaedingur, was so viel heißt wie starkes Pferd.

In Hochtemperaturgebiet Hveraroend kann man beim Myvatn-See und beim Berg Namafjall den Teufel riechen und – baden.
In Hochtemperaturgebiet Hveraroend kann man beim Myvatn-See und beim Berg Namafjall den Teufel riechen und – baden.(c) Markus Kirchgessner

Birkenbier

Zurzeit laboriert er zusammen mit Tóti und Gudny, der Fachfrau für Marktlücken, an einem Birkenbier. Sein erlesener Sortenschatz, der von India Pale Ale weit über English Stout und Malt Beer reicht, („ein schönes Bier, ganz wie der Brauer selbst“, sagt Arni), wird durch die Birkenkreation erneut bereichert. In seiner feinen und überschaubaren Brauerei mitten auf dem Hof hat jedes Bier seine ganz eigene Entwicklungsgeschichte. Von Arni beseelt dargeboten, gestaltet sich die Bierprobe besonders witzig.

Die Microbar in Reykjavík ist eine weitere Wirkungsstätte Arnis, vielleicht sein Wohnzimmer in der Inselhauptstadt. An etlichen Tagen steht der Wirt dort selbst hinter dem Tresen und bietet zum Bier eine unerschöpfliche Bandbreite an hintergründigen Gesprächen in Kombination mit allen Nuancen isländischen Humors.

Humor im Gepäck ist in Island mindestens so angesagt wie die Regenjacke. Es ist möglich, das Land, einem Bildband gleich, mit seinen vielfältigen Landschaftscharakteren Seite für Seite lediglich zu durchblättern. Interessanter und wesentlich lustiger ist, im Kontakt mit den Einheimischen nach wenigen Sätzen einen automatischen Eingruppierungstest zu bestehen. Danach ist festlegt, wie viel Schwärze der Witz für die kommenden Stunden haben darf. Als harmlos und äußerst populär geht dabei der klassische Island-Witz durch: „Was macht man, wenn man sich in Island im Wald verirrt? Aufstehen!“

In Hot Pots hocken

Island ist das Land, bei dem die letzte Weltwirtschaftskrise ihren Ausgang nahm, bestückt mit Menschen, die aus diesem Mist jede Menge kreativen Dünger machten. Ein Land, das vor Energie strotzt, dessen Menschen gern gesellig in Hot Pots sitzen und mehr Kinder in die Welt setzen als jedes andere europäische Land. Man kann ja nicht nur trinken an den langen Winterabenden!

Monströse Bergketten, kilometerweite Hügel, mit Moosteppich ausgelegt, Pferde mit fünf Gängen, gern aneinandergelehnt dem Sturm trotzend, rostrote Steppe, mit Lavastreifen verziert, eine an Unwirklichkeit grenzende Landschaft, die den Reisenden nach drei Tagen verstehen lässt, warum es in Island eine Feen- und Elfenbeauftragte geben muss. Kleinere schnurgerade Landstraßen machen zuweilen scheinbar grundlos einen Schlenker um einen Steinhaufen. „Aus Sicherheitsgründen und für die Elfen!“, erklärt Gudny.

In der Bauphase ereignen sich zuweilen seltsame Dinge. Maschinen gehen zu Bruch, Arbeiter werden häufig krank oder bauen vermehrt Unfälle. Der Straßenbelag bekommt Risse. So etwas ist ein klassischer Fall für die Elfenbeauftragte. Im Auftrag des Bauamtes lauscht Gudny den Elfen ab, wo die heiligsten Stätten im elfischen Hoheitsgebiet sind, und empfängt von ihnen Alternativvorschläge. Die Abänderung der geplanten Strecke, unter besonderer Berücksichtigung elfischen Rates, bringt meist nachhaltig Frieden in die Landschaft.

Bar Goetu Barinn in Akureyri.
Bar Goetu Barinn in Akureyri.(c) Markus Kirchgessner

Fépflufa: „Schafe und Hügel“

Tóti lehnt am Seitenausgang seiner Küche und blinzelt in den fast zu warmen Septembersturm. Dem stillen, verschmitzten Koch liegt Island zu Füßen in einer Ecke des Landes, wo die Landschaft flach und curryfarben bis gelbgrün in sandiger Wattstruktur über das Meer gegossen wurde. Ungefähr dort, wo die Klippen und Fjorde dem Westen überlassen sind und die Berge des Nordens sich noch nicht erheben. „You get beautiful ideas when you have simple things around you!“

Damit trifft Tóti den Kern dessen, was seine Kochkunst ausmacht. Seine Erfahrungen sammelte er in vielen jungen Jahren in ganz Europa. Bei Sterneköchen wie den „Roux-brothers“ in London, beim Bocuse-Wettbewerb in Lyon, in der Schweiz und in Deutschland. Tóti liebte die Alpen.

Jedoch kehrte er mit Gudny, seiner Frau, zurück, und betrachtet man Hofstadir, war das sicher kein Fehler. Hier in Hofstadir, im inneren Nordwesten, pflegt er zusammen mit Gudny eine äußerst gelungene Neuübersetzung altisländischer Küche. Die Gaststube ist hell, viele Fenster verbinden sie mit der Landschaft. Die Karte reicht von Arctic Shark, einem Fisch, der geschmacklich zwischen Lachs und Forelle anzusiedeln ist, über Lamm bis zu Pferdesteak. Von schwer erziehbaren Pferden wohlgemerkt, das ist so in Island. Ganz normal und natürlich. Die Pferde werden gehegt und gepflegt, geliebt und geritten, in die Landschaft gestellt und in ihrer Schönheit bewundert. Wenn sie aber im Alter von zwölf Jahren immer noch nicht erzogen sein wollen, dann dürfen sie die Menschen mit ihrem Fleisch glücklich machen. So ist das in Island.

Hofstadir ist das, was Gudny in Form von zotteligen schwarz-weißen Schafsfellwandbildern selbst kreiert und Fépflufa nennt. An den Wänden all ihrer Gästezimmer hängt ein Fépflufa. Fépflufa heißt „Schafe und Hügel“, Fépflufa heißt ebenso Marktlücke. Hofstadir füllt sogar in Island, wo überall naturnah gekocht werden kann, eine Marktlücke.

Nach Hofstadir zu kommen bedeutet mehr, als einem weiteren kulinarischen Höhepunkt auf der Reisekarte ein Fähnchen aufzustecken. Kommt man zu Tóti und Gudny, kommt man an. Man kommt heim. Und man bleibt, am besten so lange, bis der Flieger weg ist, reitet Gudnys Pferde und lacht mit ihren Kindern. Sieht dabei zu, wie Tóti, wenn er gerade einmal nicht in der Küche steht, das Familienhaus, ein Torfhaus von 1906, Schicht für Schicht beschneidet und behutsam dessen Grasdach mäht. Und blinzelt mit ihm in den Abendstunden in ein „different kind of nightlife“.

BADEN, BIKEN, REITEN, ESSEN UND TRINKEN

Anreise: u. a. mit Iceland Air, www.icelandair.de

Unterkunft: Icelandair Hotels, achtmal in Island, www.icelandairhotels.com

Im mittleren Nordwesten: Tóti und Gudny, Hofstadir i Skagafirdi, 551 Saudarkrókur, info@hofstadir.is, Tel.: +354 4537300

Im Süden: Hotel Fljótshlíd, Hvolsvollur, 861 Hvolsvelli, www.smaratun.is

Efstidalur, Selfoss, www.efstidalur.is

Country Hotel Anna, Hvolsvollur, www.hotelanna.is

Essen: Fish Market, 101 Reykjavík
Adalstræti 12, info@fiskmarkadurinn.is, Tel.: +354 578 8877

Grill Market, 101 Reykjavík, Lækjargata 2A, info@grillmarkadurinn.is

Hofstadir i Skagafirdi, 551 Saudarkrókur,
info@hofstadir.is, Tel.: +354 4537300

Tomatengewächshaus Fridheimar,
Bláskógabyggd, 801 Selfoss, www.fridheimar.is

Icelandairhotel Kirkebekklaustur,
Heimatmuseum Hrisey, bester Stock- fisch Islands, www.icelandairhotel.is

Trinken: Götubarrin, Akureyri
Café Sufistinn im Bookshop, Reykjavik
Café Restaurant Sudur, Vík-Handels-sted, Sudurvegur 1, facebook.com/sudurvik



Touren: Foodtour Reykjavik: „Reykjavik by food“, www.reykjavikfoodtour.com

Radtour Reykjavik: www.icelandbike.com

Akureyri rundum: Gísli Rúnar Vídisson, www.gislitenor.wix.com/the-new-tenor

Myvatn-Touren und Umgebung: Eyrún oder Jonas/Myvatn, www.hikeandbike.is

Brauereien: Gædingur, Skagafjoerdur, Saudarkroki, www.gaedingur-ol.is Kaldi, Öldugötu 22,621 Árskógssandi, www.bruggsmidjan.is

Bäder: Natural Lagoon, Myvatn
Gamla Lagoon, Fludir Fontana Laugarvatn, www.fontana.is

Beste Bademöglichkeiten siehe: Jón G. Snæland: „Thermal pools in Iceland“

Reiten: Hotel Fljótshlíd, www.smaratun.is
Herridarholl, www.herridarholl.is

Island-Info:https://de.visiticeland.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2018)

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