South Downs: Bei Wind schweigen die Schafe

Der Leuchtturm von Beachy Head.
Der Leuchtturm von Beachy Head. (c) imago/Joana Kruse (Joana Kruse)
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Steilküste und Ritterburgen, Fledermäuse und Fasane: Die South Downs in Englands Südosten sind ein Abenteuerspielplatz für die Kinder. Eltern finden's anders spannend.

Von vorn pfeift der Wind, unten toben die Wellen. Sehr weit unten. Die höchste Kreideklippe am Beachy Head, wo die Hügel der South Downs jäh ins Meer stürzen, liegt 165 Meter über dem Wasser. Ohne Abgrenzung führt der Pfad beunruhigend nahe an der Steilküste entlang. Beklommen betrachten die Eltern vier Kreuze, die sich mahnend vor dem Abgrund erheben. Das Kind stemmt sich gegen den Wind, versucht eine Unterhaltung mit den Schafen, die sich ins Gras ducken und nicht blöken wollen, und lässt sich über die Wiese rollen. Immerhin zur Landseite. Trotz heller Frühabendsonne erreichen wir das Pub, das einsam wie ein Schmugglertreff auf der Klippe thront, zerzaust und mit eiskalten Ohren. Innen lassen wir uns vor dem Kamin in Ledersessel fallen. Der Bub widmet sich der Betreuung des Feuers, legt Holz nach und stochert zufrieden in der Glut. „Toll war dieser Ausflug“, sagt er. Kein Vergleich zu den öden Spaziergängen zu Hause.

Dover Castle.
Dover Castle. (c) imago/blickwinkel (imago stock&people)


Dabei schien unsere Reise zunächst unter keinem guten Stern zu stehen. Auf dem Weg zur Fähre war dem Vater ein Virus heftig auf den Magen geschlagen. Die Beschwerden besserten sich durch das behäbige Schaukeln unserer Fähre kaum. Während wir den Mann noch durch Tee zu beleben versuchten, erreichte uns eine Nachricht des Hotels in Eastbourne. Der Indoorpool habe einen Schaden. Betreten schauten wir einander an. Waren das alles schon Auswirkungen des Brexit? Suchte man uns absichtsvoll fernzuhalten?

Sitzprobe unterm Baldachin

Doch aus der Nähe betrachtet zeigten sich die Kreidefelsen der Küste in gewohnt freundlichem Licht. Blitzblau war der Himmel über Dover Castle, einer der mächtigsten Festungen im Westen Europas. Die Räume des Großen Turms, der das Herz der Burg bildet, sind mit modernen Mitteln so eingerichtet, wie sein Erbauer, Heinrich II., es sich schon im zwölften Jahrhundert leisten konnte: mit knisternden Kaminfeuern, holzgeschnitzten Möbeln vom Kinderbett bis zu den Miniaturpulten für junge Prinzen, mit Saiteninstrumenten und Schachbrettern zum Spielen sowie Wandbehängen in leuchtenden Farben. Alles darf man hier angreifen und sich im Thronsaal sogar wie König oder Königin auf zwei Thronsessel unter einen tiefblauen, mit Sternen geschmückten Baldachin setzen.
Wir würden ja ohnehin kaum Zeit zum Planschen haben, trösteten wir uns, als wir es uns schließlich auf einer Bank mit Blick über den Hafen von Dover bequem machen. Schließlich wollen wir eine weitere Burg, zwei Gärten, eine Dichterklause und die Steilküste erkunden, zudem Fußball spielen und viel lesen, das alles möglichst draußen und in nur einer Woche. Einigermaßen versöhnt, der Mann nahezu genesen, wanderten wir abends über Eastbournes Kieselstrand, warfen Steine ins Meer und bewunderten die gewaltigen Klippen jenseits der Stadt.
Zahmer zeigt sich die Landschaft im Hinterland der Küste. In Sheffield Garden, einer vom Gartengestalter Lancelot alias „Capability“ Brown zum begehbaren Gemälde veredelten Landschaft, öffnet jede kleine Brücke und jede Bank einen neuen Blick auf exotische Bäume und von goldenen Gräsern eingefasste Seen. Am schönsten ist der weite Cricketplatz auf einem Hügel über dem Garten, auf dem sich gut Fußball spielen und picknicken lässt.

Schaukeln im Wald

Die größte Attraktion verbirgt sich indessen jenseits der schmalen Landstraße, die Sheffield Garden vom dazugehörigen Parkland trennt. Durch ein Weidentor betreten wir eine bis zum Horizont reichende Wiese, auf der hier und da Schafe grasen. Ein Schild weist uns den Weg zum Abenteuerspielplatz. Das Kind beginnt ein Gespräch mit den Schafen, die die Frage nach ihrem Wohlergehen mit freundlichem Blöken quittieren. Der Spielplatz liegt in einem Wäldchen im Tal und ist erst auf den zweiten Blick als solcher zu erkennen. Abgesägte Baumstümpfe sind zu einem Hüpfparcours angeordnet, aus langen Ästen Tipis errichtet, aus Stämmen lebensgroße Schafe geschnitzt. Vom Ast einer gewaltigen Eiche baumelt ein langes Tau, an dessen Ende als Schaukel ein weiterer Ast befestigt ist. Geradezu magisch ist dieser im Wald versteckte Spielplatz, und dass das Kind hier außer roten Fliegenpilzen auch einen Ast findet, der aussieht wie ein echter Flugbesen, wundert es überhaupt nicht.

Vereistes Löschwasser

Der Besen muss mit. Fortan lebt er im Kofferraum und begleitet uns anderntags zum Garten Nymans. Vom Haus, das einst die aus Deutschland stammende Bankiersfamilie Messel bewohnt hat, sind vor allem malerische Ruinen geblieben. An einem eisigen Wintermorgen des Jahres 1947 – dem 75. Geburtstag des Hausherrn – brannte es fast völlig aus. So kalt war es, dass das Löschwasser in den Schläuchen der Feuerwehr gefror. Ein Wiederaufbau war nicht möglich, denn so kurz nach dem Krieg war Baumaterial rar. So bezogen die Messels ein anderes Haus in der Nähe. Erst Tochter Anne ließ in den Fünfzigerjahren einige Zimmer herrichten, die sie bis zu ihrem Tod 1992 bewohnte. Diese halbdunklen, etwas klammen Räume sind so erhalten, wie sie sie hinterlassen hat: vom Klavier bis zu den liebevoll aufgestellten Weihnachtskarten, die Queen Mum ihr treu geschickt hat, da sie beide Omas derselben Kinder waren, nämlich der von Prinzessin Margaret und Antony Armstrong-Jones.

So gruselig dem Kind die Geschichte des unlöschbaren Feuers erscheint, so schnell vergisst es sein Unbehagen, als es am Eingang die Aufgabe erhält, in jedem Raum ein Tier zu finden. Ein weißer Löwe verbirgt sich hinter einem Bilderrahmen, ein Reh schmückt einen Teller, im vollgestellten kleinen Wohnzimmer ruht schließlich Stofffuchs Foxy unter einem Tischchen. Das Spiel ist so einfach wie wirkungsvoll: Hochkonzentriert untersucht das Kind das Inventar und nimmt nach erfolgreicher Jagd einen Aufkleber entgegen, dessen Aufschrift ihn als Kenner Nymans ausweist.

Verzauberter Garten

Jenseits der südafrikanischen Wiese, der bunten Sommerbeete zwischen Buchs und Brunnen und des ummauerten Gartens erstrecken sich Wald und Weideland. Auch hier führt ein Tor in eine verzauberte Welt. Ein sechzig Meter hoher kalifornischer Redwoodbaum beweist, dass die Messels ihre Gartenleidenschaft auch außer Sichtweite des Hauses ausgelebt haben. Auf einer Wiese streift ein Fuchs umher – womöglich Foxy, der Annes gute Stube verlassen hat, um einen Ausflug zu unternehmen. Und überall sehen wir Fasane, die die Feldwege am späten Nachmittag nahezu verstopfen.

Auch der Sprengel Rodmell bei Lewes ist fest in den Klauen des Geflügels, das unerschrocken auf den Parkplatz von Monk's House vordringt. Hier lebte früher einmal eine berühmte Schriftstellerin mit ihrem Mann in einem kleinen Haus. Interessanter als das enge Wohnzimmer, in dem Virginia und Leonard Woolf abends gelesen und Schallplatten gehört haben, ist der riesige Garten.

Schmale Pfade führen durch Beete zu einer Rasenfläche mit einer Bank. Allerdings möchte das Kind nichts davon wissen, dass unter einer Ulme die Asche der einstigen Hausherren liegt, weshalb wir die Umstände von Virginia Woolfs unzeitigem Ende im Fluss Ouse im März 1944 ganz verschweigen. Lieber läuft es weiter zum Obstgarten, wo Kisten voller Äpfel zur Bedienung unter den Bäumen liegen, und zur Wiese. Wo einst Virginia und Leonhard mit Gästen Boule gespielt haben, liegen noch heute Kugeln. Zum Geschrei der Fasane und der Aussicht auf die Hügel des Sussex Weald spielen Vater und Sohn einige Partien.

Berühmter Schreibtisch

Diese Aussicht genoss auch Virginia Woolf in dem Gartenhäuschen, in dem sie schrieb. Durch eine Glasscheibe betrachten wir ihren Schreibtisch, auf dem Zeitungen, Stift, Papier, Brille und ein Krug mit Blumen den Eindruck erwecken, sie habe hier gerade noch gearbeitet. Auf einem zweiten Tischchen steht eine tolle schwarze Schreibmaschine. Fast schon ein Wohnzimmer sei das, findet das Kind: gemütlich mit dem Sessel, in dem man sich nach Stunden auf dem harten Schreibtischstuhl ausruhen konnte, und schön geheim, so versteckt am Ende des Grundstücks. Aber nun will es endlich eine richtige Burg sehen. Auch dafür seien wir schließlich nach England gereist.

Bodiam Castle bietet mit mächtigen Türmen, Zinnen und einem breiten Wassergraben den Anblick einer echten Ritterburg. Im Inneren ist alles so alt und verfallen, wie in Dover Castle ordentlich frei gelegt und neu ausgestattet. Wir steigen einen der Türme hinauf, halten auf dem Dach nach Feinden Ausschau und in den kalten steinernen Gängen nach schlafenden Fledermäusen.

Höhepunkt ist aber die Waffenkammer, in der Menschen aller Altersstufen Kampfkleidung des 14. Jahrhunderts anlegen können. Das Kind zwängt sich in einen Brustpanzer, hantiert mit eisernen Arm- und Beinschonern – unfassbar, wie die Leute sich damit bewegen konnten, und stemmt Schwerter. Als es sich in der Handhabung von Pfeil und Bogen übt, ertönen aus dem Burghof Geschrei und das Klirren von Klingen. Männer in Kettenhemden liefern sich ein Gefecht. Als sie voneinander ablassen, geben die Ritter sich als Besucher aus Australien zu erkennen. Sie haben die weite Reise eigens gemacht, um vor echten Kulissen ihrem Hobby zu frönen. „Das Tolle an England ist“, erklärt das Kind, „es passiert immer etwas, womit man nicht gerechnet hat.“

Burgen, Parks, Ruinen

Übernachten: Kette Premier Inn, familienfreundlich, www.premierinn.com

Anschauen: Dover Castle: am Wochenende 10–16 Uhr. www.english-heritage.org. uk

Sheffield Park Garden: täglich 10–16 Uhr. www.nationaltrust.org.uk

Nymans Garten: täglich 10–16 Uhr, www. nationaltrust.org.uk

Monk's House:www.nationaltrust.org.uk

Bodiam Castle: Lord Curzon kaufte die ab 1385 erbaute Burg 1917, versuchte, sie vor dem Verfall zu bewahren, und hinterließ sie dem National Trust. 10.30–17 Uhr. www.nationaltrust.org.uk

Tipp: Familienpass des National Trust vorab buchen: www.visitbritainshop.com.

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