Halifax: Stilles Wasser

Vor hundert Jahren, am 15. April 1912, sank die Titanic. In Halifax im kanadischen Nova Scotia sind 150 Opfer des Schiffbruchs begraben – ein Lokalaugenschein.

TIPPS

Und plötzlich wird aus dem Mythos wieder Wirklichkeit. All der Kitsch, die pathetischen Szenen, der Schmachtfetzen Céline Dions, die Abenteuergeschichten von der Suche nach dem Wrack und die insgesamt 26 Filme – sie treten zurück und machen der nackten Wahrheit Platz: Hier liegen sie. Unter den Grabsteinen mit Namen oder den 44 Steinen nur mit Nummern, die alle das gleiche Datum „April 15, 1912“ tragen, haben 121 Menschen ihre letzte Ruhe gefunden. Alle kamen sie beim Untergang der Titanic ums Leben.

Die schwarzen Granitsteine sind in drei Reihen angeordnet, die zufällig wie die Linien eines Schiffsbugs verlaufen. Fast alle sind gleich niedrig. Die paar, die herausragen, haben Angehörige nachträglich errichten lassen. William Denton Cox, der Steward, der dafür sorgte, dass auch Dritte-Klasse-Passagiere ihre Rettungsboote fanden, liegt hier, ebenso ein Jakob Alfred Wiklund, an dessen Grab eine schwedische Flagge steckt. Auf einer Platte nahe einem großen keltischen Steinkreuz steht geschrieben, dass Besatzungsmitglied Everett Edward Elliott, Nr. 317, 24 Jahre, „der ganzen Welt zeigt, wie Engländer sterben sollten“. Irgendwo dazwischen findet sich auch das Grab von Joseph Dawson, Nr. 227, der tief im Bauch des Ozeanriesen Kohle schippte. „Jack Dawson“ nannte Regisseur Cameron den Titelhelden seines Blockbusters, aber die Figur, die Leonardo diCaprio verkörperte, hat keine Ähnlichkeiten mit dem wirklichen Dawson. Trotzdem legt immer wieder jemand Blumen dort nieder.

Wie aber kommt es, dass diese Toten auf einem Friedhof der Hauptstadt der Provinz Nova Scotia liegen, rund 1100 Kilometer westlich der Untergangsstelle im Atlantik? Die bekanntesten Fakten des Titanic-Dramas kann mittlerweile jedes Schulkind herunterbeten: Unsinkbares Luxusschiff mit sieben Decks, türkischer Sauna und eigenem Postamt, größtes seiner Art bis dahin, verlässt mit etwa 1300 Passagieren und 900 Mann Besatzung am 10. April das englische Southampton. Am 14. April um 23.40 Uhr rammt es im Atlantik einen Eisberg und geht zwei Stunden und 40 Minuten später unter. Rund 1500 Menschen sterben bei dem Unglück. Die „RMS Carpathia“, ein Schiff der Konkurrenzlinie Cunard, nimmt 700 Überlebende auf und bringt sie nach New York. Doch was geschah mit den anderen?

Die sanken nicht etwa alle bald danach zum Meeresgrund. Im „Maritime Museum of the Atlantic“ ist der Titanic eine eigene Abteilung gewidmet. Eine Eichenholzschnitzerei aus dem Treppenhaus der ersten Klasse ist da ausgestellt und ein Schrank mit geflochtener Front. Es gibt einen Original-Deckstuhl aus Mahagoni, für dessen Nutzung die Passagiere zahlen mussten. Und in einer Vitrine liegt ein kleiner Segeltuchsack mit dem Aufdruck „41“. Er war ursprünglich verplombt und versiegelt, ein dazugehöriger Zettel besagt, dass er zu Edmund Stone aus Southampton gehörte, 33 Jahre, Steward der ersten Klasse. In solchen Beuteln wurden die persönlichen Gegenstände der Opfer gesammelt und aufbewahrt – sie stehen für die enge, aber wenig bekannte Verbindung zwischen Halifax und der Titanic in den Wochen nach der Katastrophe, die das Museum ausführlich dokumentiert.

Ein Schock für die Seeleute. Schon am 17. April fuhr die „Mackay-Bennett“ hinaus, ein Schiff, das zur Reparatur von Überseekabeln zwischen Europa und Amerika eingesetzt wurde. Drei Tage später kam sie an der Unglücksstelle an – ein Schock selbst für Seeleute, die hart im Nehmen waren. „Das Meer war übersät mit Wrackteilen, Trümmern und Leichen, die in der kalten See auf und ab schwappten“, schrieb einer später. 306 Tote holten die Männer an Bord. Da sie nicht genug Särge und Eis dabei hatten, bestatteten sie 116 Menschen gleich wieder in der See – mit dem Segen des Geistlichen, der ebenfalls mitgekommen war. Später holten drei weitere Schiffe, die „Minia“, die „Montmagny“ und die „Algerine“, noch einmal 19 Opfer zurück.

Als die „Mackay-Bennett“ in Halifax einlief, hatte die Stadt schwarz geflaggt und alle Kirchenglocken läuteten. Pferde zogen die Wagen mit den Särgen der Passagiere der ersten und den Leichensäcken derer der zweiten und dritten Klasse vorbei. Schweigend gaben die Menschen den Toten das letzte Geleit. Man brachte sie auf das Gelände einer Eisbahn, auf dem heute „Ron’s Army-store“ Stiefel, Spaten und Regenponchos verkauft. 40 Bestatter wurden von der ganzen Ostküste zusammengezogen und kümmerten sich um die sterblichen Überreste. Besonders wohlhabende oder prominente Tote wurden in den Räumlichkeiten des Beerdigungsinstituts John Snow & Co. versorgt – heute serviert dort das Restaurant „The Five Fishermen“ erstklassigen Hummer. Der Standesbeamte John Henry Barnstead entwickelte jenes hilfreiche System der Identifizierung, bei dem die Toten und ihre Habe numeriert und alle Besonderheiten wie Narben, Schmuck oder Tätowierungen genau verzeichnet wurden.

Bestattet auf drei Friedhöfen. 59 der identifizierten Leichen wurden von ihren Verwandten in die Heimat zurückgeholt – was vor allem für Europäer eine teure Angelegenheit war, da die Reederei den vollen Preis für den Transport verlangte. Die verbleibenden 150 setzte man auf drei Friedhöfen der Stadt bei: 121 auf Fairview Lawn, zehn auf dem jüdischen „Baron de Hirsch“-Friedhof, 19 auf dem katholischen Mount Olive – darunter John Clarke, den Bassspieler des Bordorchesters. Die Beerdigungen dauerten vom 3. Mai bis zum 12. Juni.
Dann ging das Leben weiter. 1985 wurde das Wrack der Titanic in 3800 Meter Tiefe im Atlantik entdeckt. 1997 kam James Camerons Film in die Kinos und wurde zum bis dahin erfolgreichsten Streifen aller Zeiten. Im Jahr darauf schnellte die Besucherzahl im Maritime Museum nach oben, auf dem Friedhof traten sich die Massen auf die Füße. Die Einwohner der Küstenstadt waren darüber eher verwundert. Schiffsuntergänge waren immer Teil ihres Lebens gewesen – und sie waren Schlimmeres gewöhnt: An einem wunderschönen Wintertag im Dezember 1917 etwa explodierte im Hafen das französische Munitionsschiff „Mont Blanc“, die Explosion tötete fast 2000 Menschen und legte den Norden der Stadt in Schutt und Asche.

Auf den diesjährigen Jahrestag aber hat sich die Stadt mit der markanten sternförmigen Zitadelle vorbereitet. Sie will den Spagat schaffen, ihn angemessen zu begehen und trotzdem den Touristen einiges zu bieten. Natürlich gibt es Rundgänge, die von der Hafenpromenade zu all den Orten führen, die mit der Titanic verbunden sind. Hilda Slaters Haus in der Prince Street ist etwa darunter. Sie war auf der Titanic nach Amerika zurückgekehrt, um zu heiraten, überlebte glücklich und wohnte bis zu ihrem Tod in Halifax. Das Georg-Wright-Haus erinnert an den weniger glücklichen, ertrunkenen Sohn der Stadt, der seine Millionen auch dafür einsetzte, Wohnprojekte zu schaffen, in denen Menschen aller Gesellschaftsschichten zusammenlebten – fast undenkbar für diese Epoche der rigiden Klassenschranken. Zum Jahrestag am 14. April ziehen Einwohner und Gäste in einer Kerzenprozession durch die Straßen, alle Glocken läuten, die Schiffshörner ertönen und ein weiß-rotes Feuerwerk symbolisiert die SOS-Raketen der Titanic in Seenot. Am Tag darauf erinnert ein interkonfessioneller Gottesdienst auf dem Fairview-Lawn-Friedhof an die Opfer. Später im Sommer wird ein Kongress stattfinden, Wissenschaftler berichten von Tauchfahrten zum Wrack, ein Filmfestival und ein großes Konzert beschließen das Gedenken. Aber natürlich wird auch ein Dinnertheater mit den entsprechenden Menüs und ein Theaterstück über den einzigen Schwarzen an Bord nicht fehlen. 

Ein kleiner Teddybär.
An diesem Morgen auf dem Friedhof ist das alles noch weit weg. Aber Mythos und Realität verschwimmen auch hier bald wieder miteinander, vor allem am Grab des unbekannten Kindes. Gleich zu Beginn ihres Einsatzes holten die Matrosen der „Mackay Bennet“ den Körper eines etwa zweijährigen Buben aus dem Wasser. Als er beerdigt wurde, nahmen 75 Mann der Besatzung am Gottesdienst in der Kirche von St. George teil. Sechs von ihnen trugen den Sarg zum Friedhof. Über dem Grab ließen die Seeleute einen großen Granitstein errichten: „To the memory of an unknown child“. Blumen, ein kleiner Teddybär und anderes Spielzeug liegen an seinem Fuß. Alma Paulson, die daneben begraben liegt, ist aber nicht, wie ursprünglich angenommen, seine Mutter. 2004 ergaben DNA-Tests, dass es sich um den 19 Monate alten Sidney Goodwin aus der Grafschaft Wiltshire in England handelt, der mit seinen Eltern und fünf Geschwistern in der dritten Klasse unterwegs nach Amerika war, wo der Vater bei den Niagarafällen eine Stelle als Elektriker antreten sollte. Keiner überlebte.
Das Maritime Museum zeigt ein Paar winzig kleiner Schuhe. Ein Polizist hatte sie an sich genommen, als nach Abschluss der Beerdigungen die Kleider aller Toten verbrannt wurden, damit Souvenirjäger keine Geschäfte machen konnten. Es sind angeblich die Schuhe von Sidney Goodwin. Mythos und Wirklichkeit – im Falle Titanic sind sie nicht mehr voneinander zu trennen.

Sanft ruhen
Das Marriott Harbourfront Hotel liegt schön und nah am Wasser. Wochenendspecials ab ca. 100 € für zwei Übernachtungen p. P. . +1/902/421 17 00 www.marriott.de

Gut essen
Five Fishermen ist berühmt für seine Meeresfrüchte. Spezialitäten sind der Seafood-Chowder, Pasta mit Hummer und der gebratene Schellfisch. 1740 Argyle St., +1/902/422 44 21, www.fivefishermen.com

Vergessen
Jennifer's of Nova Scotia hat eine große Auswahl schöner Postkarten, handgestrickter Socken und Pullover, interessante Objekte aus Treibholz und anderer Kitsch, alles garantiert aus Atlantik-Kanada. Spring Garden Road, www.jennifers.ns.ca

Schaudern
Das Maritime Museum of the Atlantic zeigt neben der Titanic-Abteilung eine Ausstellung zur Seefahrtsgeschichte und zur Halifax-Explosion von 1917. www.maritime.museum.gov.ns.ca

Titanic-Touren
Tauchfahrten zum Wrack sind beim Erlebnisreisen-Veranstalter Jochen Schweizer zu buchen. Man verbringt in U-Booten zwei bis drei Stunden in 3800 Meter Tiefe in Gesellschaft von Wrackteilen und Trümmern. Preis für zwölf Tage (exkl. Flüge): 49.999 Euro. www.jochen-schweizer.de

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Helena Beaumont-Jones from Airlie Beach, Australia is overcome with emotion as the MS Balmoral Titani
Weltjournal

"Titanic": Gedenkfeier am Ort des Unterganges

Rund um dem Globus und sogar auf hoher See legten Menschen Kränze nieder und gedachten dem Schiffsunglück vor 100 Jahren. In vielen Ländern gab es Schweigeminuten und Messen für die mehr als 1500 Opfer.
Titanic Kind keiner kannte
Weltjournal

Titanic: Das Kind, das keiner kannte

50 Kinder schafften es nicht mehr in die Rettungsboote, als die Titanic in der Nacht auf den 15. April 1912 versank. Die meisten wurden nie geborgen, eines aber fand man tot an der Wasseroberfläche treibend.
"Titanic"-Gedenken erreicht am Jahrestag des Untergangs Höhepunkt
Weltjournal

Menschen weltweit gedenken des Untergangs der Titanic

Am 14. April 1912 kollidierte die Titanic mit einem Eisberg und sank. In Großbritannien, den USA und auf hoher See gibt es Gedenkveranstaltungen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.