„Nächstenliebe“ – eine biblische Klarstellung

Eine politische Partei verdreht und missbraucht den zentralen Gedanken unserer religiösen Tradition. Ich protestiere!

Eines ist klar: Wenn eine Partei „Nächstenliebe“ als Programm wählt, greift sie auf einen biblischen Begriff zurück. Vom „Nächsten“ ist im Alltag nicht die Rede; es ist ein spezieller Begriff der jüdischen und der christlichen Tradition.

Weniger klar ist, was in den Köpfen dieser Partei vor sich geht, wenn sie „Nächstenliebe“ in erster Linie als „Österreicherliebe“ versteht. Handelt es sich um unschuldiges Unwissen? Um Ironie? Gar um Zynismus? Das soll uns aber hier nicht beschäftigen. Vielmehr geht es darum, zu verstehen, was Nächstenliebe bedeutet – der ethische Kern der jüdisch-christlichen Tradition.

Am deutlichsten zeigt es eine biblische Geschichte: „Ging der 17-jährige Laurin Kokoska um vier in der Früh von der Oper zum Stephansdom, wurde zusammengeschlagen und blieb in seinem Blut liegen. Kam die Döblinger Anwältin Mitzi Maierling, schaute angestrengt in die Auslage von Swarovski und ging vorbei. Kam der Stefan Hinterlahner aus Klagenfurt, dachte sich ,Scheiß Kiffer!‘ und ging vorbei. Kam die Asylantin Fatima Halifani, schaute, ob der Peter noch lebte, rannte dem Stefan hinterher und redete auf ihn ein, bis er mit seinem Handy die Rettung rief.“

So oder so ähnlich könnte Jesus heute das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählen, mit dem er erklärte, was es bedeutet, den Nächsten zu lieben (Lukas 10,29-37). Es zeigt, dass der oder die „Nächste“ eben nicht in erster Linie ein Mensch der gleichen Nationalität oder Religion ist.

Wenn die Bibel von Solidarität innerhalb des eigenen Volkes spricht, dann mit den Worten „Schwester“ oder „Bruder“. Aber der oder die „Nächste“ ist unabhängig von der Nationalität, wie der deutsche Rabbiner Benno Jacob im Kommentar zum Buch „Exodus“ formuliert hatte: Der Nächste ist „jeder Mensch, mit dem ich in nähere Beziehung getreten bin oder treten will oder treten soll. Der Nächste ist nicht jeder Mensch, aber jeder kann es werden.“

Deshalb ist es nur konsequent, dass die biblische Ethik mit Nachdruck fordert, keinen Unterschied in der Haltung gegenüber Ausländern einzunehmen: „Der Ausländer, der bei euch lebt, soll für euch wie ein Einheimischer sein, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.“ (Lev 19,34).

Von Aufenthalten in Afrika und Amerika heimkommend, schäme ich mich für Österreich, wenn ich die blauen Wahlplakate sehe. Eine politische Partei verdreht und missbraucht den zentralen Gedanken unserer religiösen Tradition. Als Christ protestiere ich.

Mit biblischer Ethik lässt sich keine kleinkarierte nationalistische Politik machen. Ganz im Gegenteil. Sie provoziert bis heute, jeden Menschen und die Welt mit einem offenen, menschlichen, universalen Blick zu sehen.

Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentliches Rundschreiben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskräfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt.


E-Mails: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2013)

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