Instrumentalisierte Migranten

Wussten Sie schon? George Soros ist schuld! Über die lächerlichen und die ernst zu nehmenden Inhalte aktueller Verschwörungstheorien.

Eine Meldung macht gerade in den Social Media die Runde: Jonathan Samuels, Reporter von Sky News, hat auf der Insel Lesbos im Flüchtlingsabfall ein zerfleddertes Handbuch gefunden, das mit Landkarten, Erklärungen, Adressen und Tipps den Flüchtlingen den Weg nach Europa erleichtern soll. Dahinter stehe die Organisation w2eu (für: Welcome to Europe!), die mit anderen Tausende dieser Broschüren verteilt, damit möglichst viele Flüchtlinge den alten Kontinent stürmen. Und w2eu gehöre dem Milliardär George Soros, der die Destabilisierung Europas ganz bewusst und gezielt betreibe. So läuft das also!

Oder auch nicht. Sicher: w2eu gibt es wirklich, die Broschüre auch. Jonathan Samuels hätte sich aber gar nicht erst als Miststierler betätigen müssen – w2eu bietet sie auf ihrer Website jedermann zum Herunterladen an. Die deutsche „TAZ“ hat schon 2013 darüber geschrieben. Und George Soros? Im Internet hat niemand auch nur ein einziges Indiz dafür parat, dass er mit w2eu irgendetwas zu tun hat. Aber das muss man auch nicht, denn es ist im Internet allgemein bekannt, dass Soros mit Obama Europa und die USA so destabilisieren will, dass er eine Diktatur aufziehen kann.

Wenn es also mit der Verschwörung nicht weit her sein dürfte, ist dennoch die tatsächliche Präsenz von Gruppierungen problematisch, die eine ideologische Agenda haben. w2eu ist ein Teil der No-Border-Szene aus der linken, teils anarchistischen Antirassimusbewegung. Ihr gilt das Asylregime der EU als rassistisch, weil es von der Überlegenheit der europäischen Kultur ausgehe. Aus demselben Grund werden Nationenbegriff und Integration abgelehnt. Und das Menschenrecht der freien Wahl des Wohnortes sei mit Aktivismus durchzusetzen. Migranten als das neue Proletariat – mit revolutionärer Power. „Wir wollen dort sein, wo sich Bewegung und Revolte treffen“, zitiert die „TAZ“ eine deutsche w2eu-Aktivistin.

Dazu gehören eben nicht nur hilfreiche, mitunter lebensrettende Broschüren, sondern auch der Aufbau organisierten Protests und Widerstandes. Rund um die Votivkirchen-Flüchtlinge haben wir das schon erlebt: Menschen, die eigentlich nur ein Visum und ihren Frieden wollten, fanden sich auf einmal als Protagonisten eines neuen Klassenkampfes wieder.

Flüchtlingsarbeit als ideologische Kampfansage an die bürgerliche Gesellschaft gefährdet aber genau das, worauf die Flüchtlinge in Wirklichkeit angewiesen sind: eine hilfsbereite Bevölkerung. Derzeit spielen die Ideologen nur eine Nebenrolle, aber je weniger Hilfsbereitschaft die Flüchtlinge vorfinden, desto leichteres Spiel haben sie.


Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2015)

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