Glaubensfrage

Dreiprozentkirche

Die evangelischen Kirchen feiern nächsten Samstag ein Reformationsfest. Dabei gibt es für sie, genau betrachtet, nicht viel zu feiern.

Hurra, wir leben noch! Das könnte, extra dry formuliert, das unausgesprochene Motto eines Reformationsfestes sein (es soll kein kopflastiger Kirchentag werden), bei dem die evangelischen Kirchen Tausende in Wien versammeln wollen.

Man kann vieles über den Rathausplatz sagen. Nur eines nicht: dass er zu selten „bespielt“ wird. Zwischen Filmfestival, Christkindlmarkt, Eislaufen, Maimarschieren, Steiermarkdorf – alles verbunden mit den unvermeidlichen Ess- und Trinkbuden – zwängt sich am Samstag also eine Veranstaltung, die Wien so noch nie gesehen hat. Die evangelischen Kirchen richten da ein Reformationsfest aus. Vor 500 Jahren hat ein Augustinermönch 95 Thesen an der Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen. Der Rest ist bewegte (blutige) Geschichte.

Die evangelischen Kirchen versuchen, sich mit ihrem ersten derartigen Fest seit Menschengedenken in Erinnerung zu rufen. Und sich und den Rest vielleicht von Problemen abzulenken? Möglich. Denn derer gibt es doch manche. Die Dreiprozentkirche spielt in öffentlichen Diskussionen eine, wie sagt man höflich, marginale Rolle. Ein selbstbewusstes „Hier stehe ich und kann nicht anders“ sieht anders aus. Die kleinen Geschwisterkirchen der Katholiken sind an mehreren Fronten unter Druck: In der politischen Debatte dominiert ohnedies eine nicht christliche Religionsgemeinschaft, der Islam. Unter Druck gerät die Glaubensgemeinschaft auch beim Religionsunterricht. Die seit dem Jahr 2013 staatlich anerkannten Freikirchen sind da zuletzt besonders aktiv geworden und ziehen Schüler ab, die früher von den evangelischen Kirchen mitbetreut wurden. Die Mitgliederentwicklung wieder ist mit jener der katholischen Kirche vergleichbar, in Prozentsätzen verlieren Lutheraner, Reformierte und Methodisten sogar noch deutlicher ihre Schäfchen. Langsam, aber sicher nähert man sich der symbolträchtigen 300.000-Grenze, um sie nach unten zu durchschreiten.

Dabei bieten die evangelischen Kirchen vieles von dem, das manche Katholiken von ihrer Kirche so inniglich erträumen. Priester sind nicht mit einem Heiratsverbot belastet, Frauen stehen selbstverständlich alle Leitungsämter offen. Sie dürfen nicht nur Kuchen für das Pfarrkaffee backen oder, für die katholische Kirche schon eine kopernikanische Wende, ein Seelsorgeamt leiten, sondern auch Pfarrerin, Superintendentin und gar Bischöfin werden. Heute ist in Österreichs evangelischen Kirchen jeder dritte Pfarrer eine Pfarrerin. Und trotzdem gibt es nicht nur keinen Ansturm auf die Kirchen. Lediglich Pfarrer gibt es aktuell genug, bis in ein paar Jahren auch hier eine Pensionierungswelle bevorsteht. Der Aderlass der Kirchen scheint also doch mit der Säkularisierung insgesamt mehr zu tun zu haben – weniger mit Reformresistenz oder -bereitschaft. Als ob man es geahnt hätte.

dietmar.neuwirth@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2017)

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