Glaubensfrage

Bürgermeisterwege

Dass der Wiener Bürgermeister vor der offiziellen Vertretung der Muslime spricht, ist eine Meldung wert. Weshalb eigentlich?

In meiner Stadt muss jeder Mensch die Möglichkeit haben, seine Religion zu leben.“ Lassen wir beiseite, dass Michael Ludwig wohl in einem Moment von Selbstvergessenheit (es wird ja nicht Machtversessenheit sein) Wien als seine Stadt bezeichnet. Was er über Religionsfreiheit vom Rednerpult aus erklärt hat, müsste eine Selbstverständlichkeit sein. Zumindest für uns ist es eine Selbstverständlichkeit, die wir die Gnade haben, in entwickelten Demokratien leben zu dürfen, nicht in Staaten, in denen es sogar verboten ist, bei der Einreise religiöse Schriften mitzuführen. Dabei ist das, was uns als Normalfall erscheint – unglaublich, aber wahr – in steigendem Maß Ausnahme.

Laut dem Pew Research Center mit Sitz in Washington D. C. leben weltweit drei von vier Menschen unter mehr oder weniger starken Einschränkungen ihres religiösen Lebens: Christen, Muslime und Juden. Tendenz steigend. In absoluten Zahlen sind es mit geschätzten 200 Millionen besonders Christen, die, besorgniserregend genug, von drastischen Sanktionen und Verboten betroffen sind. Damit nicht genug, sie werden auch am häufigsten Opfer tödlicher Angriffe. 70.000 bis 100.000 Christen werden pro Jahr laut letzten verfügbaren Schätzung umgebracht. Von Schergen des nordkoreanischen Regimes, von Islamisten oder, vor allem in Afrika, aufgrund ethnischer Auseinandersetzungen.

Das ist Faktum, das es in Erinnerung zu rufen gilt, wenn Wiens Bürgermeister eine scheinbare Plattitüde von sich gibt. Der Schein, wir wissen es nicht erst seit Thomas Bernhards gleichnamigem Stück, trügt. Nur scheinbar bemerkenswert ist auch der Ort der Rede. Ludwig war Gast der Islamischen Glaubensgemeinschaft, die zum Fastenbrechen eingeladen hat. Darin einen Kniefall vor dem Islam zu sehen ist, zumindest interessant. Natürlich hat der Wiener Bürgermeister wie alle, die hier wohnen, Interesse an einem friedlichen Zusammenleben in der Stadt zu haben. Muslime sind (nicht erst seit gestern) ein größer werdender Teil Wiens. Daher entspricht es guter Tradition, dass der Bürgermeister dann und wann offizielle Termine der Islamischen Glaubensgemeinschaft wahrnimmt. Er drückt so Respekt vor dieser Religionsgemeinschaft aus, den jene uneingeschränkt verdienen, die als Muslime friedlich hier leben. Gleichzeitig (eigentlich früher) hat Ludwig am ersten Tag nach der Wahl zum Bürgermeister die Lange Nacht der Kirchen besucht und war öfter (heuer halt nicht) Teilnehmer des von Kardinal Christoph Schönborn angeführten Fronleichnam-Stadtumgangs. Der Katholik Ludwig wird in Bälde auch die Spitzen der Religionsgemeinschaften zu einem Termin bitten. Respekt statt Ignoranz oder gar Repressalien – genau so funktioniert das Modell, das auch nicht vom Himmel gefallen ist, sondern nach Irrwegen sonder Zahl entwickelt wurde. Und das viel zu vielen Ländern noch zur Nachahmung vorgelebt werden muss.

dietmar.neuwirth@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.06.2018)

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