Freiheit hat Vorrang vor der Wahrheit

Und Toleranz ist Pflicht. Aber wer deswegen meint, dass Missionierung böse sei, wie kürzlich Charlotte Knobloch, ist auf dem Holzweg.

Die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, hat kürzlich in einer Zeitung zunächst korrekt und unaufregend gesagt: „Ökumene bedeutet eine Begegnung der Religionen in Toleranz und gegenseitigem Respekt.“ Um dann kräftig danebenzuhauen: „Die Basis für den Dialog zwischen den Religionen ist die Akzeptanz der Unterschiede, die es zu fördern gilt. Das heißt auch: Jegliche Versuche der Missionierung stehen im klaren Widerspruch zur Ökumene.“ Ich kann verstehen, dass eine deutsche Jüdin die Unangefochtenheit der eigenen religiösen Identität ganz nach oben stellt. Aber trotzdem müssten selbst Atheisten Knoblochs Diktum, gegenseitiger Respekt verbiete jeden Versuch der Missionierung, zurückweisen.

Wo nur irrelevante Unterschiede bestehen, ist Missionierung reine Belästigung. Aber wenn etwa meine Frau strenggläubige Muslimin wäre (ist sie nicht), befürchten würde, dass mein katholischer Hang zu Kamptaler Weißweinen mich um den Himmel bringt, und von vornherein zu mir sagen würde: „Ich respektiere das, mach ruhig weiter, ich werde mich hüten, dich bekehren zu wollen“ – dann würde ich zu zweifeln beginnen, ob sie mich wirklich liebt. Und dasselbe würde ich mich fragen, wenn sie trotz meiner Proteste nicht mit dem Bekehren aufhören würde.

Auch in der Politik bedeutet der Verzicht auf Überzeugungsarbeit entweder, dass man die eigene Sache nicht glaubt, das Ganze nicht für wichtig hält, das Gegenüber für nicht relevant ansieht oder glaubt, dass ein anderer dafür zuständig ist. Respekt vor den Irrtümern der anderen hat damit nichts zu tun. Und wer behauptet, es gebe gar keine Irrtümer, sondern nur unterschiedliche gleich wahre Auffassungen, der ist schon gar nicht respektvoll, weil er nämlich meine Überzeugungen gleichsetzt mit jeglichem Schwachsinn, den sich irgendwer irgendwann nur ausdenken kann.


Respekt und Anerkennung gebühren nicht den Überzeugungen, sondern den Menschen und ihrer Freiheit, sich Glauben oder Unglauben selbst auszusuchen. Im Übrigen achtet und anerkennt kein Mensch alle Glaubenssysteme, die es gibt. Selbst die meisten Bannerträger der Ökumene rümpfen die Nase über neuheidnische Wotansverehrung, Hexenkult oder fliegende Yogis. Man respektiert im Grunde doch nur das, was einem zusagt. Darum ist nicht die säuselnde Anerkennung der Unterschiede („Wie schön, dass mein Kind viel besser Klavier spielt als Ihres!“) das, worauf eine Gesellschaft Wert legen muss. Sondern das Zulassen der Unterschiede und der Verzicht auf Zwang, Penetranz und Aggression. Freiheit hat Vorrang vor der Wahrheit. Aber nicht die Freiheit, dass die Zeugen Jehovas nicht an meiner Tür läuten dürfen, sondern dass ich ihnen „Danke, nein!“ sagen kann und sie wieder gehen.

michael.prueller@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2010)

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