Die Stunde des Weicheis

Stunde Weicheis
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Wird der neuerdings weiche Euro die Krise beenden oder erst so richtig vertiefen? Die Zukunft der europäischen Wirtschaft entscheidet sich in einem Ringen unterschiedlicher ökonomischer Glaubenssätze. Ein kleiner Leitfaden durch die Ereignisse der vergangenen Woche und der kommenden Monate für interessierte Laien.

Vorige Woche wurde der Euro weich geklopft. Die Einführung des „Stabilitätsmechanismus“ (bei dem nicht gesagt worden ist, was oder wen genau er stabilisieren soll – den Eurokurs, die griechischen Staatsfinanzen, die französischen Banken, die deutsche Regierung?) hat den Euro vorübergehend gestärkt und auf Dauer weniger stabil gemacht. Darüber herrscht weitgehend Einigkeit unter Ökonomen. Aber wie es jetzt weitergeht, steht in den Sternen. Ob wir in wenigen Jahren mehrstellige Inflationsraten haben werden, wie etwa die Weichwährungsländer Griechenland von 1973 bis 1993 oder Italien von 1973 bis 1983 – oder eine Deflation wie das Weichwährungsland Japan seit gut zehn Jahren, das kann heute niemand sagen. Ob der Euro nun seine Talfahrt stoppt oder fortsetzt, ob also etwa Franken-Kreditnehmer aufatmen oder schon einmal heulen und Zähne knirschen üben sollen – da gehen die Meinungen auseinander.

Im Hintergrund prallen hier (mindestens) zwei Welten aufeinander, die sich auf entgegengesetzte Grundannahmen zurückführen lassen, wobei das englische Wort beliefs der Sache vielleicht sogar näherkommt: Ist Schuldenmachen gut? Ist Sparen oder ist Geldausgeben besser für die Wirtschaft? Kann man gesundschrumpfen? Sind Spekulanten wirklich eine Gefahr?

Ein dramatischer Wechsel von einer Glaubensrichtung zur anderen ist die jüngste Entwicklung der Europäischen Zentralbank, die seit Neuestem selbst Staatsanleihen kaufen darf. Das klingt unaufregend – Msr. Trichet wird doch nicht gleich zum windigen Spekulanten, wenn er mündelsichere deutsche Bundesanleihen anschafft! –, ist aber ein Paradigmenwechsel, der je nach Standpunkt zur Rettung der Währungsunion oder geradewegs in Teufels Küche führt.
Das Gründungsdogma der Währungsunion war ja die unbedingte Stabilität des Euro, das Schreckgespenst war die Inflation. Darum hatte der Euro nach außen und nach innen eine Hartwährung zu sein, also eine, die ihren Wert behauptet. Der klassische Weg disziplinloser Volkswirtschaften sollte im Euroraum verbaut sein: der Abbau der Staatsschulden durch Inflation und die kurzfristige Belebung der Wirtschaft durch Abwertung der Währung.

Ein Schuldenabbau durch Inflation funktioniert so, dass eine Regierung die Notenbank zwingt, ihr Geld zu borgen, indem die Notenbank Staatsanleihen kauft (wodurch sie Gläubiger des Staates wird). Das Geld dafür kann sie einfach drucken, neu schaffen. Die Geldmenge wächst also überproportional – das ist das Wesen der Inflation.

Für eine Regierung ist das sehr attraktiv: Sie ist nicht mehr auf Steuern oder private Geldverleiher angewiesen, um ihre Ausgaben zu finanzieren. Den Preis zahlen die Staatsbürger, deren Geld weniger wert wird. Aber auch sie sind unterschiedlich betroffen. Im Großen und Ganzen ist Inflation ein Umverteilungsprozess, bei dem das Geld von den Sparern und anderen Gläubigern und in geringerem Ausmaß auch von den Arbeitern und Angestellten (deren Löhne nicht so schnell angepasst werden, wie ihre Lebenserhaltungskosten steigen) zu den Regierungen, Schuldnern und Unternehmern fließt.

Daraus wird schon ersichtlich, dass Inflation auch ihre Attraktivität für manche Ökonomen und Politiker hat. Wer von der Grundannahme ausgeht, dass Sparen die Basis jeder gesunden Wirtschaft ist, wird aber die Wirkung auf das Vertrauen der Sparer fürchten und daher für einen unbedingten Stabilitätskurs eintreten. Der liberale Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm Röpke, einer der geistigen Väter des deutschen Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg, hat daher fast belustigt darauf hingewiesen, dass es „pikanterweise gerade der Liberale ist, der auf dem Gebiete des Geldwesens gegenüber dem kollektivistisch Gesinnten die Forderung strengster Disziplin vertritt“. In Deutschland und Österreich kommt zu diesem belief auch die Erfahrung mit der Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg dazu, teilweise ausgelöst durch ausufernde Budgetdefizite und unbezahlbare Kriegsschulden. Österreich war dabei mit einer Inflationsrate von 1733 Prozent im Jahr 1922 noch glimpflich davongekommen, während Deutschland auf knapp 22 Milliarden Prozent Inflationsrate kam.

Jedenfalls konnten die Hartwährungsländer bei der Gründung der Währungsunion durchsetzen, dass der Euro stabil zu sein hat. Diese Stabilität sollte nicht nur nach innen wirken – also der Inflation vorbeugen –, sondern auch nach außen. Es galt also auch, Abwertungsdruck zu verhindern.


Dieser Druck kommt daher: Länder mit schlechter Produktivitätsentwicklung werden durch ihren Schlendrian, oft auch durch einen wenig produktiven Staatsapparat immer weniger konkurrenzfähig – und bevor sie verarmen, haben sie zwei Auswege: Sie setzen entweder Reformen und entfesseln damit die Produktivkräfte im Land. Das ist der Weg, den Irland gegangen ist. Oder man lässt zu, dass auf den Devisenmärkten der Kurs der eigenen Währung fällt.

Das war etwa über Jahrzehnte der italienische Weg. Durch solche Abwertungen wurden italienische Waren im Ausland billiger, was die Exportwirtschaft ankurbelte. Importe wurden teurer, weshalb im Inland heimische Waren wieder konkurrenzfähiger wurden. So ein Land wird außerdem für ausländische Hartwährungstouristen interessanter. Daraus folgt eine Wirtschaftsbelebung, die allerdings oft nur kurzfristig ist, wenn die eigentliche Ursache der Misere – ungenügendes Wachstum der Produktivität – nicht im Kern verbessert wird. Man nennt diese Strategie auch die „Flucht in die Zukunft“: Man gewinnt Zeit, aber mehr auch nicht. Und man handelt sich ein neues Problem ein, denn die steigenden Importpreise und die Konjunkturankurbelung haben inflationssteigernde Wirkung. (Daneben gibt es natürlich auch andere Nachteile, etwa dass Auslandsreisen teurer werden, Fremdwährungsschulden höher und dass die internationale Kaufkraft geschwächt wird – ein Lire-Millionär war eine ziemlich lächerliche Figur.)


Nicht infrage kam im Euroland eine zentral geführte, solide Haushaltspolitik, also mussten sich die sparsamen Länder auf andere Weise schützen. Die erste Gefahr – Inflation durch eine den Regierungen hörige Notenbank – war relativ einfach zu bannen: Die EZB sollte völlig unabhängig von der Politik agieren, und es wurde ihr strikt untersagt, notleidenden Regierungen durch Kauf von Staatsanleihen zu helfen. Die EZB durfte nur Leitzinsen festsetzen und Geld an private Banken verborgen – und dabei hatte sie einzig und allein darüber zu wachen, dass die Inflationsrate nicht weit über zwei Prozent steigt.

Die zweite Gefahr – Instabilität durch Abwertung – war durch den Wegfall nationaler Währungen in der Währungsunion zwar passé. Allerdings kann ein Land mit ineffizienter Wirtschaft und aufgeblähtem Staatsapparat auch die gemeinsame Währung unter Abwertungsdruck bringen – genau das, was derzeit passiert. Dem sollte durch die Stabilitätskriterien mit ihren Verschuldungs- und Inflationsbegrenzungen vorgebeugt werden, als Produktivitätspeitsche für schlampige Länder.

Doch es blieb immer noch das Problem des „Moral Hazard“: Was, wenn eine Regierung den gemütlichen Gang weitergeht, im Vertrauen auf die Hilfe der anderen? Da hat man sich gedacht: Wir verbieten einfach, dass ein Euroland einem anderen in einer selbst verschuldeten Notlage hilft. Dann bekommt ein schlecht geführtes Land schon lange vor der Zahlungsunfähigkeit die Folgen zu spüren, und zwar in Form hoher Zinsen, die es für seine Anleihen bieten muss, um noch Gläubiger zu finden. Dadurch wächst der Leidensdruck ohnehin rechtzeitig so stark, dass Reformen unumgänglich werden.
Dachte man. In Wirklichkeit erwarteten alle Marktteilnehmer, dass ein Euroland von den anderen schon nicht fallen gelassen wird. Darum kauften deutsche, französische und österreichische Banken gern griechische Staatsanleihen, die höher verzinst und doch irgendwie sicher waren. Und erst, als Griechenlands Regierung nach der Wahl im letzten Herbst zugab, dass die Vorgängerregierung noch viel schlechter gewirtschaftet hatte als bekannt, erst dann kam der Moment der Wahrheit: Die Eurozone entpuppte sich als finanziell weit weniger stabil aufgestellt, als es der bisherigen Härte des Euro entsprach.

Es war ein Scheidepunkt: Entweder konnte man nun die Regeln einhalten und den harten Eurokurs rechtfertigen, indem man zunächst Griechenland, dann aber vielleicht auch Portugal, Spanien, Italien in Konkurs gehen lässt. Das hätte die auf den weichen Eurokurs spekulierenden Banken der Hartwährungsländer mit all ihren Griechenland-, Portugal-, Spanien- und Italien-Anleihen umgebracht. Also blieb nur übrig, den Euro eine weiche Währung sein zu lassen. Dafür musste man nur zwei Verbote aufheben, und das ist auch geschehen: das Verbot, anderen Euroländern zu helfen, und das Verbot für die EZB, Anleihen aufzukaufen.

Die EZB ist damit ihre Rolle als unabhängiger Stabilitätswächter los. Der Euro ist jetzt eine weiche Währung, und es braucht gar keinen spekulativen Angriff irgendwelcher Hedgefonds, um den Kurs auf Talfahrt zu schicken. (Eine Kursmanipulation durch Spekulanten ist bei einem täglichen Eurohandelsvolumen von rund 1,2 Billionen Dollar auch gar nicht über einen längeren Zeitraum möglich – und der Kurs sinkt nun schon seit Dezember 2009.)


Mit großem Risiko ist jetzt einmal Zeit erkauft, die Flucht in die Zukunft angetreten worden: Wenn es gelingt, die Staatshaushalte der weichen Länder in den nächsten zwei, drei Jahren zu sanieren und ihre Wirtschaft zu modernisieren, dann werden die 750 Milliarden Euro nicht abgerufen, und die EZB kann weiterhin so tun, als erwarte sich jeder von ihr, einen Stabilitätskurs zu fahren. Aber nur dann. Und ob diese Sanierung gelingt, und wenn nein, was dann wirklich mit unserem Geld und unserem Wohlstand passiert, hängt davon ab, wer sich im gegenwärtigen Clash der beliefs durchsetzen wird und wer dabei mit seinen Antworten recht behält.

Etwa auf Grundfrage eins: Ist Schuldenmachen eine Voraussetzung für nachhaltiges Wirtschaftswachstum – oder ist die Krise nicht vielmehr auf „reckless spending“, auf Pump, zurückzuführen? Wer an Ersteres glaubt, wird sich über die Aufweichung der EZB freuen, denn sie macht erst den Weg dafür frei, dass die Regierungen beliebig viel Geld zur Krisenbewältigung neuer Schulden auftreiben können. Wer im „reckless spending“ hingegen frei nach Karl Kraus die Krankheit erblickt, für deren Therapie sie sich hält, der sieht in den Abgrund einer Negativspirale.

Zweite Grundfrage, in Wirklichkeit dieselbe wie die erste: Ist der Konsum die treibende Kraft des Wohlstands oder das Sparen? Wer an Ersteres glaubt, kann mit höherer Inflation gut leben, für alle anderen ist sie ein Krebsgeschwür.

Dritte Grundfrage: Haben eine Regierung, ihre Bürokratie und eine mit ihr verbündete Notenbank das Wissen, das Können und die charakterliche Eignung, um durch aktive und gezielte Geld- und Steuerpolitik eine Volkswirtschaft auf nachhaltigen Wachstumskurs zu bringen? Wenn ja, dann ist Inflationierung auch nur ein Werkzeug, das ohne Scheu, wenngleich umsichtig, eingesetzt werden kann und soll. Wenn nein, dann ist Inflationierung etwas, was einem schnell aus der Hand gleitet. So wie der alte Spekulant André Kostolany gesagt hat: „Inflation ist ein angenehmes, warmes Bad, aber wenn man es immer heißer macht, explodiert zum Schluss die Badewanne.“

Und die Grundfrage Nummer vier: Sind die Kapitalmärkte von Spekulanten beherrscht, die aktiv und gezielt ganze Volkswirtschaften in den Ruin treiben können – oder sind Spekulanten nicht mehr als Aasfresser der Finanzwelt, die gegen die realwirtschaftlichen Trends langfristig nichts ausrichten können? Wer an Ersteres glaubt, mag die Rettungsaktion für den Euro als Aktion gegen Spekulanten begrüßt haben, aber es kann ihn nicht freuen, dass die 750 Milliarden Euro Rettungskapital vornehmlich auf dem Kapitalmarkt aufgetrieben werden sollen, also wieder im Haifischbecken der Spekulanten. Und wer weniger an die großen Verschwörungen glaubt, wird dennoch bezweifeln, ob es eine gute Idee war, all jenen, die auf einen weichen Euro spekuliert haben, recht zu geben (wobei man dem Schaden auch noch den Hohn hinzugefügt hat, indem man das Nachgeben als Verteidigung gegen Spekulanten verkauft und das Aufweichen des Euro „Stabilitäsmechanismus“ genannt hat).

Es kann sein, dass die Länder die Fragen krass unterschiedlich beantworten werden – etwa, weil es ganz unterschiedlich viele Sparer zu schützen gilt (wenige in Griechenland, viele in Österreich). Nachdem der Hartwährungskompromiss ausgelaufen ist, ist ein Zerbrechen der Währungsunion an diesen Fragen keine Fantasterei mehr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2010)

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