Die Entführung der Margarethe Ottillinger

Vor 65 Jahren wurde an der Grenze zwischen amerikanischer und sowjetischer Zone die Spitzenbeamtin Margarethe Ottillinger entführt und bis 1955 im Straflager festgehalten. Ihr zu Ehren wird der Platz vor der Wiener Wotruba-Kirche in Ottillinger-Platz umbenannt.

Freitag, 5.November 1948. Ennsbrücke St. Valentin. Die Grenze zwischen der amerikanischen und sowjetischen Zone. Herbert Krauland, Minister für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, und Margarethe Ottillinger, die wohl mächtigste Beamtin der Republik, fahren, aus Linz kommend, in die sowjetische Zone ein. Auf ihrem Schoß die Aktentasche des Ministers mit den damals brisantesten Unterlagen der Republik: Marshallplan und starke Stahlkürzungen für die Sowjetzone. Plötzlich, ein „Stoj!“ Ein Sprung eines KGB-Mannes ins Auto. Der Griff nach der Aktentasche. Schnell hat sie Ottillinger dem Minister gegeben. Und dieser hat Immunität.

Es ist die spektakulärste Entführung der Republik. Beide müssen zur sowjetischen Kommandantur in St. Valentin. Ottillinger wird festgenommen, Krauland kann weiterfahren. Und er tut es. Warum, bleibt bis heute ein Rätsel. Im Auto seiner Sektionsleiterin erreicht er Wien, sein Ministerium. Dort schließt er sich ein. Telefoniert. Für Ottillinger aber, 29 Jahre jung, bleiben die Zeiger der Uhr stehen. Vollkommene Isolation, totale Ungewissheit, laufende Verhöre und die Drohung der Hinrichtung als Spionin. Warum?

„Ottillinger gilt als eine der wertvollsten Agenten des US-Geheimdienstes, die Spionage gegen die Russen betreiben. Sie hat über Auftrag der Amerikaner Kontakte mit sowjetischen Offizieren geknüpft und [?]wertvolle Informationen über die sowjetischen Streitkräfte für den US-Geheimdienst gesammelt. [...] Ich habe daher beschlossen, Frau Margarethe Ottillinger zu verhaften. Major Prichodko, Spionageabwehr.“ Die nächsten Monate verbringt sie im sowjetischen Untersuchungsgefängnis in Baden bei Wien. Doch niemand ahnt dies. Die Österreicher vermuten sie längst in der Sowjetunion.

Tatsächlich, das Umfeld, in dem sich Ottillinger bewegte, glich einem Minenfeld und ist ein Spiegelbild des Kalten Krieges in Wien: US-Geheimdienstleute wie Edwin M. J. Kretzmann, Leiter der Intelligence Coordination Branch, eng mit Krauland und auch Bundeskanzler Leopold Figl, Karl B.B. Friediger, ehemals Funktionär der Vaterländischen Front, jetzt CIA-Mitarbeiter. Auf sowjetischer Seite Stahlexperte Andrej Didenko, dem sie zur Flucht in die britische Zone verhalf, und dem sie, so die Sowjets, sogar die Heirat versprochen habe, Ing. Kulagin, Chef der sowjetischen Wirtschaftsabteilung der alliierten Kommission in Österreich, die KGB-Leute und Wirtschaftsexperten Koretko, Polinskij und Ljusov sowie General Efisov, Leiter der des gesamten sowjetischen Vermögens in Österreich (von hunderten Betrieben und Einrichtungen), der sogenannten Usia. Bei den Briten gab es einen engen Draht zu einem gewissen Arthur Cox, von dem die Sowjets annahmen, dass er mit Didenko Verbindung hatte. Ottillinger verfügte durch diese Kontakte und als Leiterin Planungssektion über „wertvolle Informationen“, die sie, so die Sowjets, den Amerikanern weitergab.


Kontakte nach allen Seiten. Dazu kamen die Kontakte Minister Kraulands zu Amerikanern und Sowjets, im Kalten Krieg mehr als bizarr, die starke Position Ottillingers, die sie fast automatisch in Gegensatz zu den sowjetischen Besatzern brachte, und schließlich das ihr immer wieder nachgesagte Verhältnis zu Krauland. An ihrer fachlichen Qualifikation bestand kein Zweifel: „Ottillinger is young and brilliant“, so ein US-Telegramm aus Wien an das State Departement. Bei den Beamten ihres Ministeriums herrschten ihr gegenüber Neid und Argwohn. Einige hatten es nicht verstehen wollen, dass ihnen eine junge Frau mit 28 Jahren vorgesetzt wurde. Was lag näher, als diesen Karrieresprung nicht nur fachlichen Qualifikationen zuzuschreiben?

Blitzartig schaffte sie die Umstellung vieler Betriebe von Kriegs- auf Friedensproduktion, die Abstimmung der österreichischen Grundproduktionen mit dem Ausland, Prioritätsreihungen für die heimische Produktion lebenswichtiger Güter, für Kreditvergaben und für Energielieferungen. Zudem steuerte sie über die interministerielle Planungskommission den gesamten österreichischen Wiederaufbau. Als im Juni 1947 der US-Marshallplan für Europa verkündet wurde, war Österreich, dank der Vorarbeiten und der informellen Kontakte Ottillingers zu den Amerikanern bestens darauf vorbereitet und konnte sich die zweithöchste Pro-Kopf-Zuweisung (nach Norwegen) aus dem Marshallplan sichern.

Das ging zulasten der Sowjets, die ihrerseits eine eigene Wirtschaftsmacht aus den vielen herrenlos gewordenen Betrieben im „Deutschen Eigentum“ aufbauten: Usia, SMV (später OMV) und DDSG. Ottillinger hatte sich mit Hilfe der Amerikaner Gegenstrategien überlegt, kritisierte die Demontage und Ausbeutung der österreichischen Betriebe. In ihrem Elan und mit ihrem Wissen um die sowjetischen Usia und die amerikanischen ERP-Planungen hatte sie manchmal nicht nur altgediente Beamte des eigenen Ministeriums vor den Kopf gestoßen, sondern auch Alliierte. So rapportierte im Februar 1948 US-Diplomat C.C. McIvor dem State Departement in Washington: „It is my impression that she was a little over-stating her own force and courage including with the Russians, and, therefore, probably the Usia situation“.

Wie richtig jedoch Ottillinger gegenüber den Sowjets lag, die ihre Planungen um die Usia und die SMV schon Anfang Mai 1948 abgeschlossen hatten, zeigte sich kurz nach ihrer Verhaftung, als die Sowjets praktisch die gesamte österreichische Mineralölwirtschaft, die Erdölkonzessionen, die Schürffelder und Tankstellen sowie die Aktiva der DDSG übernahmen. Außerdem Zusatzleistungen Österreichs als Ersatz für Reparationen. Eben diese gewaltigen Zusatzleistungen wurden in Linz am 5. November 1948 in einer Geheimsitzung weitgehend gestrichen. Weitere Sitzungsteilnehmer: Figl und Hans Malzacher, in den letzten Kriegsmonaten noch Albert Speers Stellvertreter für einen großen Rüstungsbezirk, jetzt Berater der Hütte Linz. Die Sowjets hatten davon Wind bekommen.

Dafür spricht, dass Ottillinger noch im Wagen die Aktentasche mit den brisanten Unterlagen geistesgegenwärtig Krauland gab und dass Krauland, nachdem er zwei Stunden später ins Ministerium gekommen war, „seine Aktentasche mit beiden Händen an sich presste, in sein Zimmer lief und nur sagte [...] ,Die wollten meine Tasche haben!?‘ Dann vergrub er sich in seinem Arbeitszimmer und ließ außer seiner Sekretärin und Regierungsrat Müller niemanden zu sich.“

Wenige Monate vor ihrer Verhaftung war sie immer wieder eigenartig gewarnt worden. Daraufhin zog Ottillinger, aus Sicherheitsgründen, wie sie angab, von ihrer Wohnung im sowjetischen Sektor aus und zur Familie Krauland in den US-Sektor, was den Gerüchten um die auch private Verbindung zum Minister weitere Nahrung gab.


Spekulationen über Ursache. Seither wird immer wieder über die Gründe der Verhaftung spekuliert. Vermutet wurde vor allem, dass Krauland in die Geheimdienste der Amerikaner und Sowjets involviert war und Ottillinger an seiner statt festgenommen wurde, dass auch die Verhaftungen der Wiener Polizisten bzw. Geheimdienstleute Marek und Kiridus als „Warnung“ zu verstehen waren (wie Hochkommissar Želtov gegenüber Figl zu verstehen gab), dass Ottillinger tatsächlich für den US-Geheimdienst und gegen die sowjetische Besatzungsmacht spioniert habe, dass Ottillinger ein privateres Verhältnis zu Didenko aufgebaut gehabt habe und auch, dass sie als Geisel für die Unterlagen der Geheimsitzung in Linz festgehalten wurde.

Spekulationen, freilich. Faktum ist, dass Ottillinger im Urteil zu 25 Jahren Gulag-Lager vom Jahr 1949 Spionage für die USA zum Schaden gegen die Sowjetunion sowie die Mitwirkung bei der Flucht des KGB-Mannes Didenko angelastet wurde. Der Todesstrafe entging sie nur, weil Stalin diese gerade in politischen Prozessen ausgesetzt hatte. Dennoch wären 25 Jahre Zwangsarbeitslager ein Tod auf Raten gewesen: zunächst, noch vor der Deportation, im Untersuchungsgefängnis in Baden bei Wien, wo sie sich aus Verzweiflung mehrfach das Leben nehmen wollte, danach, gemeinsam mit Kriminellen, eingespannt zum Ziehen von Pferdefuhrwerken und Ackergerät (sieben Frauen ersetzten ein Pferd!) im Sumpflager von Potma, südöstlich von Moskau, dem „Lager der Finsternis“ (Temnikovskij), wo tausende Häftlinge vor allem an Seuchen, Sumpffieber und Infektionen starben, und schließlich im Polit-Isolator Nummer 2 des KGB in Wladimir, östlich von Moskau, wo man die Häftlinge in Einzelhaft psychisch zu brechen suchte.

Ottillinger überlebte die Haft, trotz schwerer Krankheiten und nahezu unbeschreiblicher Bedingungen. Notgedrungen erlernte sie (überlebens)wichtige Ausdrücke und Redewendungen der russischen Häftlingssprache, versuchte in zahlreichen Eingaben und Beschwerden ihr Los zu verbessern, grübelte über mögliche Gründe für die Verhaftung. So mutmaßte sie, Opfer einer Denunziation im eigenen Ministerium geworden zu sein oder aber, dass ihre Verhaftung unter Beihilfe des US-Geheimdienstes ablief. Diese Versionen besprach sie mit einer Zellengenossin, die jedoch ein vom KGB auf sie angesetzter Spitzel war. Die Versionen sind zweifelhaft. Im Gegenteil. Alle Unterlagen weisen auf Bemühungen der US-Stellen, teilweise gemeinsam mit Figl und Raab, Ottillinger freizubekommen. Versionen freilich, die im Rahmen der Auswertung der Verhörprotokolle geklärt werden könnten.

Dass auch die Sowjets, nach Stalins Tod und dem beginnenden Tauwetter unter Chruschtschow, Zweifel an den angeblichen Schuldbeweisen zuließen, zeigt die Anfang 1955 erfolgte Haftverkürzung von 25 auf 10 Jahre. Im Zuge der Staatsvertragsverhandlungen wurde sie am vorzeitig aus der Haft nach Österreich entlassen, wo sie am 25.Juni in Wiener Neustadt schwer krank ankam.

Bereits 1956 wurde Ottillinger von den sowjetischen Behörden von persönlicher Schuld freigesprochen und am 16.März1994 auf Basis des russischen „Gesetzes über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen“ vom 18.Oktober1991 in allen ihr zur Last gelegten Punkten rehabilitiert.

Ihr Gelübde im Lager Potma, bei einer Rückkehr nach Österreich zum Dank eine Kirche zu erbauen, setzte sie mit dem Bau der Wotruba-Kirche in Wien-Mauer in die Tat um. Nach einer Erholungsphase stieg sie wieder in die Wirtschaft ein und wurde in der OMV Vorstandsdirektorin. In dieser Funktion verhandelte sie mit den Sowjets die österreichischen Gas- und Erdöllieferverträge. Die erste Gaslieferung durch die Sowjetunion in ein westliches Land erfolgte am 1.September1968 nach Österreich, wenige Tage nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei. Gleichzeitig wurde Ottillinger eine wichtige Beraterin von Kardinal Franz König in Fragen der Ostpolitik des Vatikans und trat der Gemeinschaft des Dritten Ordens bei.

Am 9. Juni 2013 wird ihr zu Ehren der Platz vor der Wotruba-Kirche in Ottillinger-Platz benannt werden.

Ein Denkmal für eine große Österreicherin!

Stefan Karner,Jahrgang 1952, ist Vorstand des Institutes für Wirtschafts-, Sozial-und Unternehmensgeschichte der Universität Graz. Er ist außerdem Leiter des Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung Graz, Wien, Klagenfurt.

Seit 1990/91 auch Arbeit in russischen Archiven. Karner ist auch Ko-Vorsitzender der Österreichisch-Russischen Historikerkommission.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2013)

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