"Debatte": Was ist so großartig am Wohlfahrtsstaat?

Debatte grossartig Wohlfahrtsstaat
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Bei den britischen Wahlen wird eine Reform des Sozialsystems nicht diskutiert. Dabei folgt es zunehmend einem pessimistischen Menschenbild und produziert Abhängigkeit und Resignation.

Der Zwillingseinfluss von Rezession und Erschöpfung der politischen und staatlichen Strukturen gäbe uns heute die Gelegenheit, eine Reihe wichtiger Fragen über den Wohlfahrtsstaat zu stellen: Welche Art von Sozialfürsorge wollen wir in der Gesellschaft? Wie können diese (neu) organisiert werden? Welche Art neuer sozialer Einrichtungen könnte die Menschen vor den unvermeidlichen Mängeln der kapitalistischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts beschützen?

Angesichts der Abwesenheit von Visionen in der heutigen britischen Politik überrascht es nicht, dass diese Fragen nicht auf der Wahlagenda stehen. Sie zu stellen, hieße auch, dass die politische Klasse die Rolle hinterfragen müsste, die sie selbst in den vergangenen Jahrzehnten bei der fundamentalen Neuordnung der Beziehung zwischen Staat und Bürgern gespielt hat.

Dem alten Verständnis des Wohlfahrtsstaates als Sicherheitsnetz, das den Bürgern hilft, widrige Umstände zu meistern, lag die Auffassung zugrunde, dass Individuen, Familien und Gemeinschaften im Allgemeinen fähig sind, die meiste Zeit ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sozialhilfe war daher so gestaltet, dass sie die Menschen in die Lage zurückversetzt, ohne fremde Hilfe als autonome, kompetente Wesen mit ihrem Leben fertig werden zu können.

Das Modell der Wohlfahrt, das sich in den vergangenen zwei Dekaden entwickelt hat, verwirft aber komplett die Idee, dass die Menschen die Fähigkeit haben, ihr Leben autonom zu führen. Wohlfahrtsleistungen gehen nun von der Annahme aus, dass Individuen ebenso wie soziale Gruppen nicht fähig sind, ihr eigene Gesundheit und Lebensstile, ihr Familienleben, die Kindererziehung und informelle soziale Beziehungen im Griff zu haben, wenn der Staat nicht ständig eingreift, um zu beraten, zu schulen, zu ermahnen und (um-) zu erziehen.


Natürlich war der Wohlfahrtsstaat selbst in seiner traditionellen Form immer auch mehr als nur als bloßes Sicherheitsnetz. Die wirkliche Motivation für die Gründung des Wohlfahrtsstaates hatte wenig zu tun mit moralischen Sorgen um größere materielle Gleichheit oder soziale Gerechtigkeit. In Wirklichkeit entwickelte sich der Wohlfahrtsstaat als ein Versuch, die Fehler der Marktwirtschaft zu kompensieren und die Bedrohung durch einen Klassenkonflikt einzugrenzen – er war also getrieben von den Interessen des Staates, nicht der Bürger.

In den späten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts, begannen bestimmte Teile der liberalen Intelligenzia, sich mit den offensichtlichen Ungerechtigkeiten des Laisser-faire-Kapitalismus zu beschäftigen. Allerdings waren diese Sorgen allein noch nicht ausreichend, um einer neuen Auffassung von der Rolle des Staates zum Durchbruch zu verhelfen. Der Wohlfahrtsstaat entwickelte sich aus viel nüchterneren politischen Erwägungen. So war 1899 die politische Klasse entsetzt, als sie sehen musste, dass fast 25 Prozent der Freiwilligen, die im Zweiten Burenkrieg kämpfen wollten, untauglich waren. Die Elite befürchtete den Anfang vom Ende der militärischen Größe Großbritanniens. Es entspannte sich eine hitzige Diskussion, wie durch eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter die Degeneration der britischen Rasse umgekehrt werden könnte.

Die damalige Erkenntnis, dass Armut, Krankheit und Arbeitslosigkeit soziale Probleme und nicht die Folge moralischer Schwäche der Armen sind, war im britischen Wohlfahrtsmodell bis in die 70er implizit enthalten.


Die Richtschnur, nach der Wohlfahrtseingriffe bewertet werden sollten, ist, wieweit sie dem Einzelnen größere Kontrolle über sein Leben geben – sodass er das Leben führen kann, das er führen möchten. Diese alte Zielvorstellung hat in der Diskussion der vergangenen zwei Jahrzehnte völlig gefehlt. Während der Wohlfahrtsstaat zunächst im Grunde ein Versuch war, radikale Arbeiterpolitik abzufangen, steht hinter der Transformation des Wohlfahrtsgedankens in den vergangenen Jahren ein halb bewusster Versuch des Staates, sich mit der Bürgerschaft zu verbinden und sie in vielfacher Weise umzuformen.

Dazu zwei Beispiele: Eine der fortschrittlichsten Kampagnen des Feminismus in den 70ern und 80ern galt universell verfügbarer Kinderbetreuung auf Verlangen. Auf den ersten Blick scheint es, als wäre es mit „Sure Start“ erreicht, dem Programm von New Labour, „den besten Start ins Leben für jedes Kind zu bieten, indem Früherziehung, Betreuung, Gesundheit und Familienunterstützung zusammengeführt werden“. Dieses Ziel will „Sure Start“ durch Kinderzentren („Service-Hubs, in denen Kinder unter fünf und ihre Familien nahtlos integrierte Dienstleistungen und Informationen bekommen“), durch die Garantie kostenfreier Früherziehung für Drei- und Vierjährige und durch das Versprechen von Betreuungsplätzen für jedes Kind zwischen drei und 14 Jahren von acht Uhr früh bis sechs Uhr abends erreichen.

Aber es sind zwei heimtückische Ideen, die die Sure-Start-Initiative untermauern: Erstens die Annahme, dass die meisten Eltern punkto Kindererziehung bestenfalls unwissend sind und schlimmstenfalls restlos dysfunktional. Zweitens ein fatalistisch-deterministisches Verständnis der Entwicklung des Kindes – nämlich die Idee, dass niederträchtige Erwachsene und niedergehende Nachbarschaften das Ergebnis schlechter Erziehung von den frühesten Momenten der Kinderzeit an sind.

„Sure Start“ will gesündere Kinder schaffen, indem es „den Eltern hilft, für ihre Kinder sowohl vor als auch nach der Geburt zu sorgen“. Das beinhaltet in der Praxis, dass man die Eltern über den moralischen Unwert des Rauchens und Trinkens in der Schwangerschaft belehrt und sicherstellt, dass den Kindern die empfohlenen fünf Portionen Obst und Gemüse pro Tag gefüttert werden. „Sure Start“ hat sogar Instruktionen parat, wie die Eltern mit ihren Kindern spielen sollten.

Eine solche Intervention unterminiert die Autorität und Autonomie der Eltern und verleitet dazu, Kindererziehung und Familienleben als eine Aktivität anzusehen, die nur unter der sorgfältigen Anleitung staatlich geprüfter Experten erfolgen sollte. „Sure Start“ wendet sich dabei nicht mehr wie frühere Eingriffe an relativ kleine Segmente notleidender Familien, sondern an alle Schichten und geht davon aus, dass Intervention essenziell ist, um ordentlich sozialisierte Individuen zu produzieren und Familien zusammenzuhalten – ignoriert dabei aber viele andere Probleme der Kindererziehung wie den Zugang zu brauchbarer Schulbildung und die finanziellen Lasten. Es geht um die therapeutische Neuausrichtung der Bevölkerung auf die richtige Art zu denken, zu handeln und Eltern zu sein – statt darum, Dinge und Mittel bereitzustellen, die die Eltern brauchen.


Das andere Beispiel: In unserer Antwort auf die beunruhigend hohe Arbeitslosigkeit haben wir uns von der Zeit der Arbeitermilitanz weit entfernt, die für die Rezession der 70er-Jahre typisch war. Der Staat beantwortet die aktuelle Rezession nicht, indem er bewaffnete Truppen in Alarmbereitschaft versetzt, um die soziale Ordnung zu sichern, sondern, indem er eine Armee von Beratern und Therapeuten ausbildet, um den arbeitslos Gewordenen zu helfen, mit ihren veränderten Umständen fertig zu werden. Die Jobcenter wurden ermächtigt, Arbeitssuchende an eine kognitive Verhaltenstherapie zu überweisen, und haben das Versprechen, dass sie bald solche Therapien selbst im Jobcenter anbieten dürfen.

Diese Initiativen sind nur eine Erweiterung der erklärten Absicht der Regierung – schon aus der Zeit vor der Rezession –, den Arbeitslosen psychologische Therapien zu bieten, nicht nur, um die neue Situation zu verarbeiten, sondern auch, um das Selbstvertrauen zu entwickeln, wieder einen Job zu bekommen. Arbeitslosigkeit wird jetzt also eher als Problem der Individualpsychologie als das der sozialen und individuellen Organisation gesehen. Dieses veränderte Verständnis von Arbeitslosigkeit – von politischem Versagen zu individuellem Handicap – zeigt sich auch darin, dass über 50Prozent der fünf Millionen Arbeitslosengeldbezieher im Vereinten Königreich Arbeitsunfähigkeitsunterstützung bekommen.

Und die Mechanismen, mittels derer die Arbeitslosen zurück in einen Job „assistiert“ werden, sehen kontinuierliches Training, Mentoring und Unterstützung vor, die auch dann weitergehen, nachdem eine neue Arbeit gefunden ist. Mit anderen Worten: Man geht davon aus, dass staatliche Intervention und Unterstützung notwendig sind, um die Arbeitsfähigkeit des Einzelnen aufrechtzuerhalten.

Die weitverbreitete Ansicht, dass viele Arbeitslose und Arbeitsunfähige auf zynische Weise das Sozialsystem ausnützen, verkennt das Ausmaß, in dem der Einzelne durch das neue Sozialsystem selbst ermuntert wird, sich aus dem Blickwinkel seiner physischen Unzulänglichkeiten und psychischen Verletzbarkeiten zu begreifen.


Ein Wohlfahrtsmodell, das auf therapeutischer Intervention aufgebaut ist, endet nicht in mehr individueller Ermächtigung und Autonomie, sondern in einer weiteren Verpersönlichung sozialer Probleme. Diese Perspektive suggeriert, dass der Einzelne generell unfähig ist, sein Leben zu organisieren – und das läuft Gefahr, eine selbst erfüllende Prophezeiung zu werden, weil der Einzelne tatsächlich immer abhängiger von einem Staat wird, der bei den normalsten und alltäglichsten Aktivitäten vermittelt, reguliert und Rat erteilt.

Diese Situation zu ändern, um die Menschen als fähige und autonome Individuen handeln zu lassen, würde für den Staat aber bedeuten, genau jenes Fundament infrage zu stellen, auf dem er seine Legitimität in unserem postpolitischen Klima aufgebaut hat.

Wir brauchen eine ernsthafte Debatte über die Dekonstruktion großer Teile des Wohlfahrtsstaates. Das heißt nicht, dass wir Sozialleistungen zwecks ausgeglichener Regierungsbudgets zusammenstreichen. Sondern es heißt, uns zu fragen, wie der Wohlfahrtsstaat sich eigentlich so entwickelt hat, dass er eine zersetzende Wirkung auf die Menschen und Gemeinschaften ausübt, die ihm unterworfen sind. Weit davon entfernt, ein „ermächtigender Staat“ zu sein, wie Tony Blair behauptet hat, haben wir nun einen entmächtigenden Staat.

Diese Debatte muss über die beschränkte politische Vorstellungskraft von Links und Rechts hinausgehen. Weder ist der Staat die einzige Institution, die das Wohlergehen der Bürger sichern kann, noch können wir uns darauf verlassen, dass die Märkte lückenlos für den Einzelnen sorgen können. Wir sollten die durchaus positive Herausforderung annehmen, vor die ein Zurückweisen des interventionistischen Staates uns stellen würde: die Frage als Bürger gemeinsam beantworten, welche Art von Sozialleistungen wir wirklich brauchen, und in welcher Art von Gesellschaft wir wirklich leben wollen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2010)

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