Revolution und Testosteron: Wie ein Hormon Politik macht

Ob Krieg oder Umstürze: Meist sind es Männer, die an vorderster Front stehen. Das hat nicht zuletzt biologische Ursachen. Schon in den Kreuzzügen ging es unter anderem auch darum, überschüssige männliche Energie zu kanalisieren.

Der Krieg gehört zu den ältesten Konstanten der Menschheitsgeschichte, die Revolution hingegen ist relativ modern. Die ersten großen Revolutionen finden sich in England 1688 als „Glorious Revolution“, in der Unabhängigkeitserklärung der USA 1776, gefolgt von der Französischen Revolution und der langen Liste des 19. und 20. Jahrhunderts: die bürgerlichen 1848er-Revolutionen in fast ganz Europa, die Pariser Commune 1871, Russland 1905 und 1917 und China 1912 bis hin zur Ungarischen Revolution 1956 und der zunächst Iranischen, dann Islamischen Revolution 1979, um einige zu nennen.

2011 erschütterte nach einer jahrzehntelangen Atempause und diversen samtenen Revolutionen des Jahres 1989 in Ost- und Mitteleuropa der Arabische Frühling die internationale Politik. Gegenwärtig brauen sich mit Bewegungen wie „Occupy Wall Street“ oder „Los Indignados“ (Die Empörten) revolutionäre Gewitterwolken in den USA und Europa zusammen. Der Volkszorn kocht ob sozialer Not und Wut auf die herrschenden Systeme. Das Gespenst der Anarchie geht nicht nur in Griechenland um. Kein europäisches Land ist angesichts hoher Verschuldung, gesellschaftlicher Spaltung und wachsender Arbeitslosigkeit immun. Es gärt und der Begriff Revolution ist wieder in aller Munde.

Umsturz, Gewalt und der Kampf um Macht werden meist von Männern gestaltet. Warum ist dem so? Liegt der Grund darin, dass es Frauen meist verboten war, öffentlich zu wirken? Ein Blick auf die Französische Revolution zeigt das Gegenteil, denn Frauen spielten zu Beginn 1789 eine wichtige Rolle. Die Philosophin Hannah Arendt schreibt in ihrem Grundsatzwerk „Über die Revolution“ aber fast durchwegs von den „Männern der Französischen Revolution“. In vielen nachfolgenden Umstürzen sind Männer zweifellos die wesentlichen Akteure. Dies trifft ganz besonders auf die Revolutionen von 1848 und eben auch auf die arabischen Revolutionen zu.

Es darf die Hypothese aufgestellt werden, dass es hierfür vielleicht auch tiefere biologische Gründe gibt. Männer sind oftmals die besseren Revolutionäre, weil sie bereit sind, sich für eine Sache blindlings aufzuopfern. Der Mann fokussiert seine Energie viel konzentrierter auf eine Sache als die Frau, die meist einen Sachverhalt ganzheitlich, also von mehreren Seiten untersucht. Männer entscheiden sich viel spontaner als Frauen, die wohl überlegter an so manches herangehen.

Und dies hat nichts mit Erziehung zu tun, sondern sehr viel mit Biologie und der Evolution. Vor allem junge Männer sind von einer Risikobereitschaft erfüllt, die Mütter und Ehefrauen oft zur Verzweiflung oder zumindest zum stummen Kopfschütteln bringt. Frauen nehmen Übermenschliches auf sich, um ihre Kinder zu schützen und zu ernähren. Aber es sind Burschen, die als Demonstranten in den ersten Reihen marschieren und Kopf und Kragen riskieren, die nicht nur im Sommer 1914 voller Begeisterung für Gott, Kaiser und Vaterland in den Krieg zogen.

Einer von sehr vielen Faktoren, die Männer hierbei beeinflussen mögen, liegt eventuell in den Hormonen begründet. Es ist das Hormon Testosteron, welches das männliche Lebewesen zum Manne macht. Und dieses Geschlechtshormon sorgt für eine bestimmte männliche Energie, die auch in der Gestaltung von Politik, wie eben einem revolutionären Aufbruch, eine gewisse Rolle spielen mag.


Hormonelle Gewaltexzesse. In der Überzahl sind also Männer am Schlachtfeld und in Zeiten der Revolution auf den Straßen anzutreffen. Der Überschuss junger, unverheirateter Männer bewirkte durch die Geschichte hindurch immer wieder politische Umbrüche. Der demografische Aspekt von Kriegen wird zusehends zum Forschungsgegenstand. Denn Kriege werden nicht bloß um Territorium, Rohstoffe oder aus ideologischen Gründen geführt. Der französische Soziologe Gaston Bouthoul war einer der Ersten, die demografische Faktoren für die Entstehung von Kriegen berücksichtigten. Bouthoul interessierte sich für Gewaltausbrüche in vielfacher Form. Bei all diesen Gewaltformen hat das Testosteron auch seinen Platz. Denn solche Gewaltexzesse sind teilweise in ihrer hormonellen Dimension erklärbar. Warum sind die Raser im Auto zu einem sehr hohen Prozentsatz junge Männer zwischen 18 und 25? Manche lassen ihren Energieüberschuss eben auf der Straße ab, was andere über einen Raufhandel, wieder andere im Leistungssport oder durch Engagement in einem anderen Bereich tun.


Jugendüberschuss. Der deutsche Soziologe Gunnar Heinsohn landete mit seinem Buch „Söhne und Weltmacht“ einen Bestseller, in dem er vor dem Männerüberschuss als Kriegsgefahr warnte. Er befasste sich unter anderem mit dem amerikanischen Bürgerkrieg, den er als ein Ergebnis des damaligen gewaltigen Männerüberhangs in Nordamerika erklärt. Der Begriff des „youth bulge“ (Jugendüberschuss) kommt hierbei immer wieder zur Sprache. Erstmals verwendete der US-Soziologe Gary Fuller diese Bezeichnung, worunter eine überproportionale Ausstülpung der Alterspyramide in einer Gesellschaft zu verstehen ist. Es liegt demnach ein solcher „youth bulge“ überall dort vor, wo die 15- bis 24-Jährigen mindestens 20 Prozent bzw. die 0- bis 15-Jährigen mindestens 30 Prozent der Gesamtgesellschaft ausmachen. Eine Studie der Weltbank untersuchte 2004 dieses Phänomen. Eine wirtschaftliche Stagnation verschärft die Situation. Das Risiko für Rebellion und Revolution wächst.

In diesem Zusammenhang wird auch die Hypothese aufgestellt, dass die Konfliktgefahr in autoritären Systemen größer sei als in Demokratien. Eine teils ähnliche Situation in Form eines Jugendüberschusses ergab sich aus der hohen Zahl nicht erbberechtigter junger Männer im Europa zur Zeit der Kreuzzüge. Die Predigt von Papst Urban II. im November 1095 in Clermont war keineswegs der Aufruf zu einem „Kreuzzug“, man sprach damals vielmehr von bewaffneten Pilgerzügen. Der Kreuzzug fand erst um die Wende zum 14. Jahrhundert Eingang in den lateinischen Wortschatz.

Der Papst richtete vielmehr einen Appell an die westlichen Ritter, sprich die Franken, sich mit ihrem Gefolge an einem Hilfseinsatz zugunsten der Christen im Orient zu beteiligen. Der Appell fand auch starken Widerhall in der europäischen Aristokratie. Das „Who is Who“ der feudalen Gesellschaft brach nach Jerusalem zwecks Befreiung auf. Es war dieser Exodus kampfbereiter „milites“, der in der Folge das Entstehen der großen Feudalmonarchien begünstigte. Ausgelöst wurden diese Feldzüge durch die Versprechungen einer völligen Absolution seitens der Kirche sowie die Aussichten auf Plünderungen.


Kreuzzüge kanalisierten Energie. Der päpstliche Aufruf zum Buß- und Kriegszug ermöglichte auch die Lösung eines sozialen Problems auf dem zerrissenen europäischen Kontinent. So wurden Adelsfehden der Christenheit im Westen unterbunden und wurde der Kampf gegen die religiös anderen als Mobilisierung neuer Kräfte begriffen. Denn jene zweit- und drittgeborenen Söhne, die nicht am elterlichen Hofe oder im Klerus untergebracht werden konnten, sollten einander fortan nicht mehr die Köpfe zu Hause einschlagen. Vielmehr begriff die Kirche, dass diese männlichen Energien neu gebündelt und gen Osten kanalisiert werden mussten. Damit wollte die Kirchenführung zwei Zwecke verbinden: Zum einen galt es, den „wahren Glauben“ zu verbreiten, zum anderen, die jungen Männer ohne Erbe, ohne Aufgabe im Leben, aber mit viel Kampfeskraft und Scharen von Gleichgesinnten in eine neue Richtung zu lenken.

Von den Schrecken täglicher Straßenkämpfe jugendlicher Banden, die sich in Müßiggang übten, zeichnet die Weltliteratur ein beredtes Bild. Das Drama um „Romeo und Julia“, das William Shakespeare im Verona der Renaissance ansiedelt, zeigt die Konflikte zwischen gelangweilten jungen Adeligen, die ihrem Drang nach Kampf und Aufstieg in solchen Fehden freien Lauf ließen. Rivalisierende Jugendbanden sind sicher nicht nur eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts, Vorläufer finden sich in vielen Geschichtsepochen.


Arabischer Heiratsfrühling. Als am 11. Februar 2011 mit dem Rücktritt von Langzeitpräsident Hosni Mubarak die 18 Tage der ägyptischen Revolution vorerst zu Ende gingen, jubelten all jene Menschen, die auf den Plätzen und Straßen im ganzen Land ausgeharrt hatten. Die Losung auf dem Tahrir-Platz in Kairo, der zum Symbol für diesen und folgende Volksaufstände wurde, lautete: „Wir haben unsere Freiheit wieder, wir können jetzt heiraten!“ Heiraten und eine eigene Familie gründen, ist die große Sehnsucht hunderttausender junger Männer, nicht nur in Ägypten. Doch vielen ist die Erfüllung dieser Sehnsucht verwehrt, da sie sich weder eine Wohnung noch die Hochzeit leisten können. Und die Erwartungshaltung der arabischen Frau ist hoch, wenn es um die materielle Verbesserung durch Heirat geht.

Begegnungen zwischen Mann und Frau außerhalb der Ehe sind in den arabisch-muslimischen Gesellschaften aufgrund rigider Moralvorstellungen nur schwer möglich bzw. bestimmten gesellschaftlichen Gruppen vorbehalten und nicht der großen Mehrheit. Die Devise „Wir können jetzt heiraten!“ steht für viel mehr, als dies der westliche Beobachter vielleicht im ersten Moment begreift. Es geht um Sexualität, um Selbstständigkeit und um den Status, ein verheirateter Mann zu sein. Dies spielt für Frauen keine geringere Rolle, doch uns geht es nun in erster Linie um die jungen Männer, die den Aufstand probten.

Ein Mann erlangt seinen Status in Familie und Gesellschaft über die Rolle als Vater. Die Tradition, einen Mann oder eine Frau beim Namen des erstgeborenen Sohnes als Vater bzw. als Mutter von eben diesem Kind anzusprechen, ist Teil der Alltagssprache. Ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist man erst durch die Elternschaft. Im islamisch-religiösen Selbstverständnis wird zudem die Heirat, je früher desto besser, als moralische Verpflichtung gesehen. Der hohe Grad an Unzufriedenheit in den arabischen Gesellschaften ist nicht nur auf die Korruption der Diktaturen und die Brutalität ihrer Sicherheitsapparate zurückzuführen. Einer der vielen Faktoren, warum es zu diesem Zornausbruch der Massen junger Männern kam, die bereit waren und sind, auch ihr Leben zu opfern, ist die männliche Energie.

Testosteron ist nicht nur jenes Hormon, das sexuelles Verlangen antreibt. Ein hoher Testosteronspiegel fördert ganz grundsätzlich Ausdauer, Kraft und Verhaltensweisen, die man als aggressiv oder dominant interpretieren mag. Wenn der Sexualtrieb nicht ausgelebt werden kann, weil die Familiengründung aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich ist und eine intensivere Beziehung zwischen Mann und Frau andernfalls kaum möglich ist, kann so manches kippen. Die Frustration wächst, die unterdrückte Kraft wird zum Motor für einen Ausbruch an Zorn gegen die Obrigkeit. Getrieben von dieser Energie können Männer blindlings für eine Sache alles andere vergessen und aufgeben. Sind Männer vielleicht aus diesen hormonellen Gründen die besseren Revolutionäre?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.05.2012)

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