Die Auslöschung des allerletzten säkularen Staates im Nahen Osten

Ein kostbares Biotop ethnisch-religiöser Vielfalt und der Toleranz zwischen den Religionen und Konfessionen ist dem Untergang geweiht.

Als sich Syrien im Jahr 1958 mit Ägypten zur Vereinigten Arabischen Republik zusammenschloss (das Staatengebilde, dem sich dann auch der Jemen zugesellte, bestand nur drei Jahre lang), sagte der syrische Staatspräsident Schukri al-Quwatli zu seinem ägyptischen Partner Gamal Abdel Nasser: „Ich übergebe Ihnen ein Land, das zu 95 Prozent aus Führern besteht.“

An diese sarkastische Bemerkung eines Präsidenten über seine Landsleute wurde man jetzt erinnert, als in Doha, der Hauptstadt des Golfscheichtums Katar, die Vertreter der syrischen Opposition eine Woche lang darum feilschten, wer denn nun ihr gemeinsamer Führer sein soll. Nur eine einigermaßen geeinte Opposition hat Aussichten darauf, von der internationalen Gemeinschaft anerkannt zu werden und politische und militärische Hilfe zu bekommen. Das wurde den in Doha versammelten Politikern von US-Außenministerin Hillary Clinton unverblümt ausgerichtet.

Herausgekommen ist schließlich eine „Nationale Koalition der syrischen revolutionären und oppositionellen Kräfte“. Syrian National Coalition darf der neue Zusammenschluss nicht heißen, weil seine Abkürzung dieselbe wäre wie die des „Syrischen Nationalrats“.

Gegenseitiges Misstrauen

Damit ist auch schon das Problem erklärt, um das es geht: Wer vertritt die Interessen der Syrer wirklich und besser? Der „Syrische Nationalrat“, eine Exilorganisation aus eben jenen selbstbezogenen „Führern“, oder die Kräfte, die in Syrien selbst gegen die Regierung von Präsident Assad kämpfen?

Das Misstrauen der neuen Partner gegeneinander ist groß. Der Nationalrat habe kein Interesse an der Schaffung eines demokratischen und säkularen Staates in Syrien, warf ihm eine Vertreterin der lokalen Koordinierungskomitees, die in Syrien die Proteste und Kundgebungen organisieren, vor. In Wirklichkeit habe der Nationalrat, wie es so mancher Exilorganisation geht, den Kontakt zu dem, was in der Heimat passiert, verloren, lautet auch der Vorwurf von Außenministerin Clinton.

Die Verhandlungen fanden in zwei Luxushotels in Doha statt. Wieder einmal. Katar macht sich zunehmend zur Hauptstadt arabischer und mondialer Diplomatie. Wie beim Ende des Libanon-Kriegs 2008 flankierten Scheich Hamas und der türkische Außenminister die Unterzeichner.

Nun sollte die lockere Koalition der „Freunde Syriens“ die neue Koalition als legitimen Vertreter des syrischen Volkes anerkennen, wurde verlangt. Frankreich hat das schon getan, Großbritannien überlegt noch, Deutschland aber hält es für verfrüht. Zuerst müsse die Nationale Koalition sich glaubwürdig zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und besonders zur ethnischen und religiösen Pluralität bekennen, sagte Außenminister Guido Westerwelle, der auch besorgt fragte, wie „nachhaltig“ der Zusammenschluss der Opposition sein wird.

Als Außenminister Michael Spindelegger kürzlich in seiner jährlichen Rede zur Außenpolitik im Parlament den Sturz des „Despoten Assad“ als Voraussetzung für eine Lösung der syrischen Katastrophe bezeichnete, widersprach ihm der russische Botschafter: „Wenn es nur so einfach wäre“, sagte der sinngemäß. Die russische Diplomatie, die freilich auch nicht frei von Interessen ist, glaubt nicht, dass die Beseitigung des Regimes Assad Syrien wirklich helfen, sondern stattdessen noch tiefer ins Chaos stürzen würde.

Unterdessen droht der Konflikt zu einem der „vergessenen“ Kriege der Welt zu werden. Die täglichen Toten sind kaum noch eine Nachricht wert. Der Krieg hat nun auch die Hauptstadt Damaskus erreicht, die „in ein Waffenlager verwandelt wurde“, wie es der päpstliche Nuntius gegenüber der Agentur „Asia News“ formulierte.

Die Kirche „funktioniert“ noch

Allein am vorigen Montag sind 76 Menschen durch Bombenangriffe umgekommen, darunter zehn Buben auf einem Fußballplatz. „Die Kirche ist die einzige Institution, die noch funktioniert im Land, wo alle staatlichen Einrichtungen auseinanderbrechen,“ wird der Nuntius zitiert. „Wir versuchen, Versöhnung und Verzeihung zu praktizieren, auch wo es unmöglich zu sein scheint.“ Wegen des Embargos kommen Hilfslieferungen kaum noch zu den Adressaten: „Zu uns kommen alle um Hilfe – Christen, Moslems, Alawiten.“

Die täglichen Meldungen aus dem Kriegsgebiet lauten neuerdings immer häufiger: „34 Tote in einem von Christen und Drusen bewohnten Viertel von Damaskus“, „Entführung von 280 Christen in Rableh“, „Exodus der Christen aus Deir El-Zour“. Das sind deutliche Anzeichen dafür, dass zunehmend ausländische Kräfte am Werk sind, die das letzte säkulare Staatswesen im Nahen Osten zerstören wollen. In Homs gibt es keine Christen mehr, die ehemals blühende christliche Gemeinde in Aleppo ist in schwerer Bedrängnis.

Dennoch wehren sich die Christen dagegen, den Krieg als Bürger- oder Religionskrieg zu sehen. Viele Christen seien schon Opfer des Kriegs geworden, vor allem durch Entführungen zur Erpressung von Lösegeld, „aber nicht wegen ihrer Religionszugehörigkeit“, sagt der syrisch-orthodoxe Metropolit von Aleppo, Mar Gregorius. Auch von einem Bürgerkrieg möchte er nicht reden, denn nicht das Volk sei im Kriegszustand, sondern viele einzelne Gruppen, die oft nur ihr jeweils eigenes Ziel verfolgten. Entführungen sind zu einem lukrativen Geschäftszweig geworden.

Opfer des Söldnertourismus

Syrien ist auch das Opfer eines neuartigen Söldnertourismus. Auf sage und schreibe 2000 schätzt die Leiterin des Hilfswerkes Mussalah, Schwester Agnes Mariam-el-Salib, die Zahl der bewaffneten Gruppierungen im syrischen Krieg. Die meisten von ihnen seien nicht gekommen, um die Demokratie zu erkämpfen, sondern haben einen neuen Schauplatz für den Jihad gefunden.

In vielen Einheiten seien kaum Syrer zu finden, dafür aber Jihad-Veteranen aus Pakistan, Nordafrika, Tschetschenien, Bosnien, Afghanistan und dem Irak. Sogar Europäer seien dabei. Eine große Gruppe stellen auch palästinensische Radikale. Auf das Konto dieser islamistischen Gruppen gehen die Zerstörungen von Kirchen und Angriffe auf christliche Viertel und Dörfer. In den „befreiten Gebieten“ wurden schon islamistische Strukturen eingerichtet.

Niemand wird die hässlichen Seiten des syrischen Regimes verharmlosen wollen. Aber die Herrschaft des alewitischen Assad-Clans hat für ein im Nahen Osten sonst nirgends praktiziertes friedliches Zusammenleben der Religionen gesorgt. „Die Christen wollen, dass dieses Land jenes religiös-kulturelle Mosaik bleibt, das es seit vielen Jahrhunderten ist“, erklärten die orthodoxen Bischöfe.

Wurzeln der Orthodoxie

Für die Orthodoxie hat Syrien eine besondere Bedeutung, weil viele Wurzeln von Liturgie, Theologie, Frömmigkeit, christlicher Kunst in diesem Land liegen. Die Liturgie der mit der katholischen Kirche in Einheit stehenden syrischen Kirchen hat auch viel zur Entwicklung der modernen arabischen Schriftsprache beigetragen. Dieses kostbare Biotop der ethnischen und religiösen Vielfalt und der Toleranz zwischen den Religionen und Konfessionen ist nun dem Untergang geweiht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.12.2012)

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