Déjà vu

Die EU misst eklatant mit zweierlei Maß

Ein sich überlegen dünkender Westen möchte den offensichtlich nicht für voll genommenen Zuzüglern aus dem Osten vorschreiben, welche Regierungen sie sich wählen sollen. Konservativ und national dürfen sie nicht sein.

Kürzlich hat an dieser Stelle der frühere belgische Ministerpräsident und spätere Vorsitzende der Liberalen im Europäischen Parlament, Guy Verhofstadt, wieder einmal die Agitation aus Brüssel gegen Ungarn und Polen aufgewärmt. Man kennt das von den immer selben Leuten: Jean-Claude Juncker, Frans Timmermans, Jan Asselborn, früher auch noch Martin Schulz.

Zwei Drittel der Ungarn sind offensichtlich dumm oder böse, dass sie Orbán „trotz seines Verhaltens“ wiedergewählt haben, wie der Belgier meint. Er versteht nicht, dass sie von einer „Anzahl von Untersuchungen durch das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung“ nicht beeindruckt waren. Polens Regierungspartei sei „Gegenstand einer Untersuchung wegen fortlaufender Verstöße gegen die rechtsstaatlichen Normen der EU und Verletzungen der richterlichen Unabhängigkeit“.

Verhofstadt schlägt vor, Gelder aus den Kohäsionsfonds einzufrieren, wenn EU-Mitgliedstaaten die Rechtsstaatlichkeit verletzen. Von Juncker gibt es außerdem die Idee, Staaten, die sich nicht an einer Pflichtverteilung von Migranten beteiligen wollen, mit 250.000 Euro pro Nichtgenommenem (gemessen an einer Quote) zu bestrafen. So weit, so bekannt.

Man fragt sich aber, warum das offizielle Europa mit so eklatant verschiedenem Maß misst, wenn es um Länder im Osten geht, und warum ausgerechnet an Polen und Ungarn ein Exempel statuiert werden soll. Ungarn werden Finanzsanktionen wegen mafiöser Strukturen und Korruption angedroht – hat man dergleichen schon einmal in Bezug auf Italien gehört?

Die anhaltende Verletzung zwar nicht von „europäischen Werten“, aber immerhin von Regeln für die gemeinsame Währung durch Italien findet unter Komplizenschaft der EZB und mit Tolerierung durch die übrigen Teilhaber an der Währung statt. Ein sich überlegen dünkender Westen möchte den offensichtlich nicht für voll genommenen Zuzüglern aus dem Osten vorschreiben, welche Regierungen sie sich wählen sollen. Konservativ und national dürfen sie jedenfalls nicht sein. Deshalb werden Ungarn und Polen sanktioniert, während man bei Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit in Rumänien und Slowenien wegschaut. Aber dort sind eben linke Regierungen am Werk, und die verletzen natürlich keine europäischen Werte.

In Slowenien hat der Bruch mit der kommunistischen Vergangenheit nie stattgefunden. Alte Seilschaften beherrschen Wirtschaft, Medien und Politik. Eine echte Reform der Justiz ist ausgeblieben, sie versteht sich immer noch als Instrument der Politik.

Ahnungsloser Jean Asselborn

Gegen den früheren konservativen Ministerpräsidenten Janez Janša wurde kurz vor einer Wahl ein fadenscheiniger Strafprozess geführt. Das Urteil wurde später aufgehoben, der erwünschte Effekt, den Politiker zu diskreditieren, war aber erreicht.

In Rumänien hat Staatspräsident Klaus Johannis dem Verfassungsgerichtshof ein Paket von Gesetzen über die Reorganisation der Justiz zur Prüfung vorgelegt. Sein Verdacht ist: Die Gesetze entsprächen nicht „den Anforderungen eines demokratischen Staates und der Rechtsstaatlichkeit“. Der Fall hat eine frappante Ähnlichkeit mit dem Umbau der Justiz in Polen – mit dem einen Unterschied freilich: Er regt die Schützer der europäischen Werte bei der EU nicht auf und hat keine Proteste, geschweige denn die Androhung eines EU-Verfahrens ausgelöst.

Die sozialdemokratische Regierung in Bukarest kämpft, seit sie vor zwei Jahren an die Macht kam, gegen schärfere Antikorruptionsgesetze, von denen sie selbst am stärksten betroffen wäre, weil gegen mehrere ihrer führenden Mitglieder Verfahren im Gange sind. Parteivorsitzender Liviu Dragnea darf wegen einer Vorstrafe nicht Ministerpräsident werden.

Dragnea und die Partei (PSD) möchten Gesetze durchdrücken, die eine Verfolgung wegen Korruption unmöglich machen würden. Dass sich irgendjemand aus der EU an die Seite von Johannis gestellt hätte, der alle politische Kraft gegen die Machinationen der PSD aufbieten muss, ist nicht bekannt. Die Kampagne der EU gegen zwei ihrer Mitglieder ist symbolhaft für die Entfremdung und das zunehmende Unverständnis zwischen Westen und Osten. Wenn allerdings Leute wie der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn Ungarn mit dem Ausschluss aus der EU drohen, haben sie offenkundig nicht begriffen, was der Beitritt des exkommunistischen Ostens weltgeschichtlich bedeutet.

Gefühl der Benachteiligung

Die EU konnte im Osten ihr Wohlstandsversprechen nicht schnell genug einlösen, obwohl die Fortschritte gerade in Ungarn und Polen sehr groß sind. Der wirtschaftliche Aufstieg blieb für viele aus, stattdessen gab es eine Massenemigration der Tüchtigeren in den Westen. Entstanden ist dadurch auch ein nagendes Gefühl der Benachteiligung, wie es sich in der Klage über die angeblich mindere Qualität westlicher Markenprodukte im Osten äußert.

Die Menschen hatten erlebt, dass „im Sozialismus die Armut gleich verteilt ist“, waren aber nicht darauf gefasst, dass „im Kapitalismus der Reichtum ungleich verteilt ist“, wie der bekannte Kalauer lautet. Dazu stellte sich heraus, dass im Kapitalismus ausgerechnet die korrupten postkommunistischen Seilschaften in Politik und Wirtschaft besonders erfolgreich waren.

In dem Maß, in dem die EU an Attraktivität verlor, gewannen Parteien und populistische Führer an Ansehen, die versprachen, die kürzlich gewonnene Souveränität zu verteidigen und nationale Eigenheiten zu schützen. Auf die Krise der EU reagieren sie aus der Erfahrung, dass sie schon zwei übernationale Organisationen – die UdSSR und Jugoslawien – untergehen gesehen haben, sie suchen ihr Heil in nationaler Selbstbestätigung. Sowohl Polen als auch Ungarn verweigern sich der postnationalen und multikulturellen Welt, die sie durch die Migration im Westen verwirklicht sehen.

Peinliche Erinnerungen

Als exemplarisch dafür kann ein Interview von Jarosław Kaczyński, dem starken Mann in Polen, mit der „FAZ“ gelten. Warum Polen keine Flüchtlinge nehmen wolle, da er sich doch als Christ bezeichne, wurde Kaczyński gefragt. Er halte die Frage nach dem Christentum für heuchlerisch, antwortete er, denn „die EU wollte nicht einmal einen kurzen Verweis auf das Christentum in ihrer Verfassung, zu der es nicht gekommen ist, oder im Vertrag von Lissabon“.

Im westlichen Europa wird die Berufung auf das christliche Erbe Europas als irgendwie peinlich empfunden. Man möchte daran lieber nicht erinnert werden.

Wenn Frans Timmermans, Erster Vizepräsident der EU-Kommission und Kommissar für Bessere Rechtssetzung, interinstitutionelle Beziehungen, Rechtsstaatlichkeit und die Grundrechtecharta, den Polen die „Erlösung von der immerwährenden Unterdrückung durch die katholische Kirche in Familienfragen“ wünscht, wird sich mancher Pole an einstige Maßregelungen aus dem Politbüro in Moskau erinnert fühlen.

DER AUTOR

Hans Winkler war langjährigerLeiter der Wiener Redaktion der „Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2018)

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