Déjà-vu

Europa – verirrt auf den Migrationsrouten

Zum EU-Gipfel in dieser Woche. Der Vorgipfel zur Flüchtlingsfrage am Sonntag brachte keine Ergebnisse, alles blickt nun auf das Haupttreffen der EU ab Donnerstag. Hier einige Orientierungshilfen zu den Streitfragen Migration, Flucht und Asyl.

Asyl und Migration. Beim EU-Gipfel übermorgen geht es vor allem darum, Angela Merkel aus ihrem Dilemma zu helfen. In der Auseinandersetzung mit der CSU hat sie versprochen, andere EU-Länder dazu zu verpflichten, Asylwerber, die von Deutschland mit gutem Grund abgewiesen werden, aufzunehmen.

Innenminister Horst Seehofer von der CSU will bekanntlich Personen, die anderswo schon um Asyl angesucht haben, an deutschen Grenzen zurückweisen. Mit – nebenbei – viel Geld möchte Merkel also ein Recht erkaufen, das Deutschland ohnehin hat.

Was die Zahlen besagen

Nach dem Dublin-III-Abkommen hat das erste sichere EU-Land, das ein Asylsuchender erreicht, das Verfahren für ihn einzuleiten. Ein Land kann allerdings auch den Selbsteintritt erklären und nach sechs Monaten Aufenthalt geht die Verpflichtung zum Verfahren jedenfalls auf das Land über. Nach dem Schengen-Abkommen herrscht allerdings innerhalb der EU Freizügigkeit ohne Grenzkontrollen. Mit Zustimmung der EU-Kommission kann ein Land das bis zu zwei Jahren aussetzen. Österreich und Deutschland haben das für sich beansprucht und kontrollieren ihre Grenzen.
? Opfer Italien? Die neue Regierung aus Fünf-Sterne-Bewegung und Lega in Italien inszeniert das Land als das einzige Opfer der Migration, das die größte Last zu tragen habe und deshalb nun besonderer Hilfe des übrigen Europa bedürftig sei. Tatsächlich kommt der Großteil der Migranten über das Mittelmeer in Italien an. Dennoch ist die Belastung für Italien nicht so groß wie es scheint und uns der starke Mann der neuen Regierung in Rom, Innenminister Matteo Salvini, glauben machen möchte.

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Laut Eurostat sind von den Asylanträgen der Jahre 2015 bis 2017 in Deutschland 1,44 Millionen, 335.000 in Italien, 260.000 in Frankreich, 217.000 in Schweden, 210.000 in Ungarn, 155.000 in Österreich sowie 123.000 in Griechenland gestellt worden. Umgelegt auf die Bevölkerung hatten Österreich und Deutschland also mehr als dreimal so viele Anträge zu verzeichnen. Das kleine Malta mit einer Fläche von einem Viertel der Stadt Rom hatte 5600 Anträge. Salvini setzt nur die Rhetorik und Politik der linken oder bürgerlichen Vorgänger-Regierungen fort.

Rom hat sich die Praxis zurechtgelegt, alle Migranten ohne viel Aufhebens ins Land zu lassen und sie oft ohne die eigentlich verpflichtende Registrierung nach Norden „weiterzureichen“. Die frühere Bürgermeisterin der Insel Lampedusa zwischen Italien und Libyen meinte einmal, man könne Migranten einreisen lassen, denn sie wollten ohnehin alle nicht in Italien bleiben. Nur an Frankreich scheiterte die Methode: Es hat 2017 rund 85.000 Migranten an seinen Grenzen zurückgewiesen.

Spanien als neues Zielland

Italien ist keineswegs das „Flüchtlingslager Europas“ wie Salvini behauptet. Es empfindet nur das Problem der Migration erst so heftig, seit es die europäische Praxis der Erstregistrierung mit der Abnahme von Fingerabdrücken anwenden muss und dadurch die Auswirkungen der Dublin-Regeln zu spüren bekommt. Unterdessen ist Spanien, das sich bisher abseits wähnte und sich auf den Atlantik konzentrierte, ein Zielland von Mittelmeerrouten geworden.
? Mythos Rettung aus dem Mittelmeer. Die Fahrt des Schiffes Aquarius der französischen Organisation SOS Méditerranée mit 629 Migranten an Bord hat Europa wieder daran erinnert, dass das Geschäftsmodell „Rettung im Mittelmeer“ noch immer funktioniert. Italien und Malta lehnten es bekanntlich ab, das Schiff anlegen zu lassen, worauf es nach Spanien fuhr. Dort wurde es gern aufgenommen, weil das der neuen spanischen Regierung Gelegenheit gab, zu demonstrieren, dass Sozialisten die eigentlichen Humanisten sind. Insgeheim rechnet Madrid wohl damit, dass die 629 letztendlich in Deutschland landen werden.

Wie der Aufmarsch europäischer privater und staatlicher Seemacht im Mittelmeer abläuft, beschreibt ein Bericht des European Political Strategy Centre (EPSC), der vom Präsidenten der EU-Kommission in Auftrag gegeben wurde: Die Schiffe der NGOs (wie die Aquarius und aktuell die Lifeline einer deutschen Organisation) operieren auch innerhalb der libyschen Hoheitsgewässer, was den EU-geführten Schiffen nicht erlaubt ist. Sie holen die Migranten oft direkt vor Libyen ab und übergeben sie dann EU-Schiffen, die sie bisher nach Italien geführt haben.

„Diese Änderung in unserem Modus Operandi hat neue Praktiken der Schlepper ermöglicht: Illegale Überfahrt wird billiger, häufiger und gefährlicher“, schreibt der Bericht ziemlich schonungslos. Die Mehrheit der „irregulären Immigranten“, so der Fachterminus der EU, lege den größten Teil des Wegs nach Italien auf Schiffen von europäischer Marine, italienischer Küstenwache oder NGOs zurück, die damit – so der Bericht wortwörtlich „das Geschäft der Schlepper betreiben“ (Seite 7).
? Auswegloses Problem Afrika. Über allen Auseinandersetzungen in Europa über Flucht und Migration steht drohend Afrika im Hintergrund. Es gibt Vorhersagen einer Massenemigration von Dutzenden, vielleicht Hunderten Millionen Menschen aus dem übervölkerten Kontinent. Zugleich klammert sich die EU an die Hoffnung, man könne die Migranten aus den subsaharischen Ländern womöglich noch nahe ihrer Heimat stoppen und dort entscheiden, wer überhaupt nach Europa kommen dürfe. Auf keinen Fall dürften sie die Boote der Schlepper im Mittelmeer erreichen, denn damit hätten sie ihr „Ticket nach Europa“ gelöst.

In einem einzigen Punkt sind sich europäische Realpolitiker mit ihren Kritikern aus kirchlichen und humanitären Organisationen einig: Europa müsse etwas für die Entwicklung Afrikas tun. Aber das steht unter einem unaufhebbaren Widerspruch: Noch mehr Geld für Afrika in die Hand zu nehmen und womöglich unter dem irreführenden Namen Marshallplan zu schicken, wäre kontraproduktiv.

Nicht die Ärmsten emigrieren

Die Massenemigration aus Afrika hat erst eingesetzt, als durch europäische Hilfe ein gewisser Wohlstand erreicht war. Es emigrieren nämlich nicht die Ärmsten, sondern die, die einige tausend Euro für die Reise aufbringen können. Darunter sind nicht wenige, die das Abenteuer Europa suchen. Noch dazu sind europäische Sozialleistungen ein unwiderstehlicher Anziehungsfaktor.

Unter diesen Umständen erscheint die Errichtung von Stellen in Afrika, in denen sich die europäischen Länder die Einwanderer aussuchen, die sie haben wollen, weil sie sie brauchen können, illusorisch. Wenn nur einer von tausend Bewerbern genommen wird, was geschieht dann mit den 999? Werden sie sich zufriedengeben und es nicht erst recht auf illegalen Wegen versuchen?

Europa ist zwar das vorzügliche, weil naheliegende, nicht aber das alleinige Ziel: Der US-Migrationsforscher Stephen Smith will wissen, dass in den Jahren 2000 bis 2010 mehr Afrikaner in die USA gekommen sind als in den 300 Jahren des Sklavenhandels.

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger Leiter der Wiener Redaktion der „Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2018)

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