Was sind wir jetzt

Staubtrockene Piefkes oder zuckersüße »Marmeladinger«? Und ist die Marmelade nicht ein hiesiges Nationalsymbol?

Unlängst habe ich in Graz einen Mann kennengelernt, der sich als regelmäßiger Leser der „Presse am Sonntag“ entpuppt hat. Als ich erwähnte, dass ich dort meine Kolumne schreibe, rief er aus: „Jö, der Piefke! Sie san des!“

Direkt als Piefke angesprochen werde ich ja eher selten, in der „Presse“-Redaktion tut das nur der Kollege Langenbach, aber der ist selbst einer. Wenn man einer Gruppe angehört, für die die Mehrheit einen Schimpfnamen hat, bleiben einem nur zwei Möglichkeiten: Entweder man reagiert empört, wenn der Name fällt, oder man okkupiert ihn und macht so seine schmähende Essenz unwirksam, wie es etwa die Homosexuellen getan haben, die sich selbst „Schwule“ nennen. Oder wie die afroamerikanischen Rapper: „Yo, Nigga!“

Ob etwas Vergleichbares wohl je gelungen wäre, wenn sich eine andere österreichische Bezeichnung für uns Deutsche durchgesetzt hätte: der „Marmeladinger“? Warum wir, sonst gern als staubtrockene Preußen verschrien, ausgerechnet mit so etwas Süßem assoziiert werden, hat unlängst der „Krone“-Kolumnist „Telemax“ alias Robert Löffler in Erinnerung gerufen: Im Ersten Weltkrieg haben die deutschen Soldaten keine Butter mehr gehabt und sich nur noch billige Marmelade aufs Brot geschmiert. Nach dem Anschluss hat in der Wiener Vorstadt das Lied kursiert: „Von der Wiege bis zum Grabe frisst der Piefke Marmelade.“ Löffler räumt am Ende ein, dass der Marmeladinger längst aus der Mode gekommen und inzwischen nur noch „Nostalgie, Erinnerungsschmerz“ sei. Was einem nicht alles wehtun kann...


Umso erstaunlicher ist, dass die Marmelade vor zehn Jahren in Österreich zum nationalen Symbol, ja zum Kampfbegriff für die österreichische Identität erkoren worden ist. Mit dem EU-Beitritt hat sich Österreich verpflichtet, ein EU-Gesetz von 1979 anzuwenden, das der Vereinheitlichung von Warenbezeichnungen dient. So wäre die hiesige Marmelade auf dem Etikett zur Konfitüre geworden (was Österreichs große Hersteller schon seit Jahren praktizierten). Eine populistische Phalanx aus Boulevard und Erwin Pröll stieg plötzlich für die Marmelade auf die Barrikaden, Präsident Klestil sah gar dierot-weiß-rote Identität in Gefahr. Die EU gab nach, die „Krone“ feierte den „Sieg im Marmeladekrieg“.

Auch bei uns im Rheinland sagt übrigens bis heute kein Mensch Konfitüre. Doch pragmatisch, wie wir sind, brauchen wir in solchen Fällen keinen Abwehrkampf ums Eigene: „Sollen se doch draufschreiben, wat se wollen, wir essen Mammelad.“

Eigentlich schade, dass wir nicht mehr Marmeladinger heißen. Wir wären dann nach etwas benannt, das dem Österreicher abgrundtief und zuckersüß in der Seele pickt. Da soll einer sagen, wir Piefkes lägen den Österreichern nicht am Herzen!

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.03.2013)

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