Fall der Mauer

Wie ich den Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereinigung erlebte. Und warum Joschka Fischer 1985 unrecht hatte. Über den Tag der Deutschen Einheit, Teil eins.

Der Tag der deutschen Einheit, damals noch mit kleinem D geschrieben, fiel von 1954 bis 1990 auf den 17.Juni. Das Datum erinnerte an den Volksaufstand von 1953 in der DDR. Ich gestehe, dieser Tag hat nie viel in mir ausgelöst, bezog er sich doch auf ein Ereignis in einem anderen deutschen Land. Ganz anders steht es um den neuen Tag der Deutschen Einheit am 3.Oktober, den Tag der Wiedervereinigung.

Als Student in Aachen besuchte ich Mitte der Achtzigerjahre einmal eine Podiumsdiskussion mit Joschka Fischer. Der grüne Shootingstar war soeben erst in Turnschuhen zum hessischen Umweltminister gekürt worden. Der Saal war voll, Fischer antwortete gewandt auf alle Fragen, bis ein Studienkollege fragte: „Und wie stehen die Grünen zur Frage der deutschen Einheit?“ Es entstand eine Stille im Saal, die Frage erschien vielen spürbar deplatziert, und auch Fischer selbst brauchte eine Nachdenkpause für seine Antwort: „Das ist kein Thema, ein großes Deutschland war in der Geschichte immer ein Risikofaktor.“


Dreizehn Jahre später wurde Fischer als Außenminister des wiedervereinigten Deutschland angelobt. Wie man sich wohl fühlt als Vizekanzler eines Risikolandes? Seine Politikergeneration hat sich nie in dieses schwere Erbe der deutschen Geschichte eingefunden, sie wurde hineingeschwemmt. Die Wiedervereinigung haben nicht wenige aus Fischers Lager mit Skepsis und Befremden erlebt.

Ich habe das nie verstanden. Das mag daran liegen, dass ich ebenso wie der erwähnte Studienkollege eine Mutter aus einer vertriebenen Familie und Verwandte in der DDR hatte. Die „deplatzierte Frage“ des Kollegen hätte ich dennoch nicht gestellt, und zwar deshalb, weil sie sich mir damals, wie vielen Deutschen, auch einfach nicht stellte.

Mit der glücklichen Wende, die die Deutschen, und zwar die Ostdeutschen, sich selbst und der deutschen Geschichte gleichsam über Nacht geschenkt haben, verbinde ich zwei Erinnerungen der Sprachlosigkeit. Die eine ist der Fall der Mauer, den ich in Wien vor dem Fernseher erlebt habe. Menschen tanzten, sangen und weinten auf der Straße. War das wahr, war das Deutschland? Meine Cousine, die in Berlin lebte, fuhr zum Brandenburger Tor und verteilte Geldstücke, damit die Leute telefonieren konnten. Ich wäre gern dabei gewesen.


Die andere Erinnerung betrifft den Abend des 3.Oktober 1990. Ich war damals in Aachen, eine große Menschenmenge hatte sich auf dem Rathausplatz versammelt, um die Einheit zu feiern. Wie feiert man so etwas, zumal als Deutscher? Irgendwann erklang aus einem Lautsprecher die Nationalhymne, und die Leute begannen mitzusingen. Es war ein eigentümlich verhaltener, fast schon verlegener Gesang. Viele kannten vom Text nur den Beginn: „Einigkeit und Recht und Freiheit...“ Den Rest summten sie mit. Ich habe nicht gesungen. Aber ich hatte in diesem Augenblick das gute Gefühl, dass Joschka Fischer damals in Aachen unrecht gehabt hatte.

dietmar.krug@diepresse.com diepresse.com/diesedeutschen

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.09.2013)

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