Unfaires Bildungssystem

Österreich und Deutschland haben etwas gemeinsam: Ein unfaires Bildungssystem. Ein Bericht von meinem Aufstieg in die Elite.

Als ich in die vierte Klasse der Volks- bzw. Grundschule aufstieg, gab es eines Tages ein großes Stühlerücken. Gemeinsam mit fünf anderen Kindern wurde ich an eine Tischgruppe gesetzt, die vom Rest der Klasse abgesondert war. Fortan bekamen wir Separierten mehrmals die Woche besondere Diktate und Rechenaufgaben, und wir lernten, dass ein Tunwort ein Verb ist und ein Wiewort ein Adjektiv, während die anderen Kinder sich still beschäftigen mussten. So wurden wir vorbereitet auf das, was uns im nächsten Jahr erwartete: das Gymnasium.

In meinem Dorf war ich der Einzige aus meinem Jahrgang, der auf ein katholisches Jungengymnasium gehen würde. Es gab auch eine gemischte Schule, aber die war eher etwas für Kinder aus der Stadt. Ich war neun Jahre alt – und plötzlich Mitglied einer fest umrissenen Elite.

Es waren die Siebzigerjahre, und die Debatte über die Gesamtschule, die damals in Deutschland bereits heftig tobte, schwappte irgendwann auch in meine Gymnasialklasse. Es gab wohl kaum eine andere Frage, in der sich dreißig Halbwüchsige derart schnell einig waren: Gesamtschule, nein danke! Wieso hätten wir auch dafür sein sollen? Eine solche Schule hätte den Status, den wir frisch gebackenen Leistungsträger genossen, mit einem Schlag zunichtegemacht. So übten wir uns erstmals in der Kunst, für eine feste Überzeugung auf Teufel komm raus Argumente zu suchen, unterstützt von unseren Lehrern, die keineswegs gewillt waren, womöglich auf die (Gehalts-)Stufe eines Hauptschullehrers degradiert zu werden.


Eine kürzlich erschienene Studie des Bertelsmann-Instituts hat Deutschland und Österreich ein katastrophales Zeugnis erteilt, was die soziale Durchlässigkeit des Bildungssystems anlangt. Österreich schneidet im OECD-Vergleich noch schlechter ab als Deutschland, was nur daran liegt, dass die Seitenwege zur Hochschulreife, die hierorts über berufsbildende Schulen möglich sind, in der Studie nicht berücksichtigt wurden. Der Befund indes ist mehr als eindeutig: Bis zur Universität schaffen es fast ausschließlich Kinder aus „besserem Hause“.

Die Bildungsdebatte, die nun daraus entstanden ist, erinnert verdächtig an meine Schulzeit. Festgefahren in den Bastionen der Besitzstandswahrung, gibt's statt pädagogischer Argumente nur schlecht getarnte Ideologie. Ein immer wieder vorgebrachtes Argument gegen die Gesamtschule hatten wir Schnösel auch schon entdeckt: Das Niveau würde sinken! Alles eine Frage des Blickwinkels: Hätte man im Klassenseparee meiner Grundschule nicht die ohnehin Erfolgreichen gefördert, sondern die vernachlässigten Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien – wäre das Niveau der Klasse dann etwa nicht gestiegen? Und wetten, ich hätte auch so herausgefunden, was ein Verb ist.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.