Nachbar in Not

Ob Hartz-IV-oder Numerus-clausus-Flüchtling: Der Deutsche klopft hier anscheinend nur noch als Nachbar in Not an die Tür. Wirklich?

Unlängst erschien der „Kurier“ mit der Schlagzeile: „Deutsche ,betteln‘ um Stromaus Österreich“. Es ging um eine Anfrage von deutscher Seite, ob Österreichs Energieversorger bereit wären, nach den Abschaltungen von acht deutschen Atommeilern bei möglichen Engpässen mit Stromlieferungen einzuspringen. Die Anführungszeichen, in die der „Kurier“ das „betteln“ gesetzt hatte, wurden relativiert durch den rot eingefärbten Beginn der Unterzeile: „Nachbar in Not“. Ja, so sieht er uns gern, der Boulevard, in Not und auf den Knien.

Das erinnert mich an die bemerkenswerte ethnosoziologische Feststellung eines Wiener Taxifahrers: „Die Piefke san die neichen Jugos.“

In die gleiche Kerbe schlug Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel, als er 2005 in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen“ die damaligen Arbeitslosenzahlen in Österreich mit deutschen Hartz-IV-Flüchtlingen erklärte: „Es ist jetzt plötzlich sehr viel attraktiver geworden, bei uns Arbeitslosenunterstützung zu bekommen.“ Was Schüssel nicht erwähnte, war, dass man ein Jahr lang in Österreich gearbeitet haben muss, um hier einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu haben. (Abgesehen davon, dass ein Hartz-IV-, also ein Sozialhilfeempfänger nicht gerade der klassische Kandidat für eine kostspielige Übersiedlung ins Ausland ist.)


Inzwischen sind die Hartz-IV-Flüchtlinge längst zu Numerus-clausus-Flüchtlingen geworden. Schön, dass all diese Menschen auf der Flucht vor dem deutschen Elend hier immer wieder Asyl finden! Aber die Österreicher hatten schon immer ein Herz für ihren Nachbarn in Not – vor allem, wenn es sich um diesen ewig erfolgreichen Großkotz handelt, der nun endlich einmal als demütiges Armutschkerl an die Tür klopft, sozial deklassiert und so schlecht ausgebildet, dass er sogar den „Jugos“ die Jobs streitig macht.

Leider muss ich diesem Bad im Wonnetümpel der Schadenfreude ein paar harte Fakten zumuten. Die Deutschen hier in Österreich sind im Durchschnitt ziemlich gut ausgebildet. 36 Prozent von ihnen verfügen über einen Hochschulabschluss, im Vergleich zu 14 Prozent der Österreicher.

Ich bin ja gespannt, wie sich diese Zahlen auf das deutsch-österreichische Zusammenleben auswirken werden. Es mag paradox klingen, aber meineHoffnung ist, dass sie auf lange Sicht eher zur Entspannung beitragen werden. Denn es dient immer noch mehr der Besänftigung gewisser Komplexe, einem deutschen Akademiker aus der Nähe dabei zuzusehen, wie er auch nur mit Wasser kocht, als ihm aus der Ferne sein Hartz IV zu vergönnen. Das andere Szenario wäre die Pflege der jeweils eigenen Untugenden – hier die giftige Schadenfreude, dort ein nicht minder hässliches Schauspiel: ein Piefke, der einem Ösi die Welt erklärt.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2011)

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