"Herr Karl"

Ist Qualtingers "Herr Karl" ein typischer Wiener? Wenn ja, dann frage ich mich, wie ich es in dieser Stadt seit 20 Jahren aushalte.

Der im Vorjahr verstorbene Wiener Soziologe Heinz Steinert hat einmal in einem Interview gesagt: „Wenn wir deutschen Freunden Wien erklären wollen, sagen wir: Schaut euch den ,Herrn Karl‘ an, da seht ihr, wie ein Wiener ist.“ Und was bekommen meine Landsleute da zu sehen? Eine derart widerliche Bühnenfigur, dass man sie nie mehr vergisst: einen gewissenlosen Opportunisten, triefend vor Selbstmitleid und ausgestattet mit dem Talent, selbstdie tiefste Niedertracht mit seiner schmierigen Gemütlichkeit in Einklang zu bringen. Wenn das ein typischer Wiener sein soll, dann frage ich mich, wie ich es seit 20Jahren in dieser Stadt aushalte.

Es ist schon erstaunlich, in welchen Extremen sich das Selbstbild der Österreicher bewegt. Die einen leben ständig in patriotischer Hab-Acht-Stellung, um ihr edles, kleines Land vor fremden Mächten zu verteidigen. Und die anderen wähnen sich im „Schnitzelland“, wo die miesen Eigenschaften gedeihen, wobei dieser „austriazistische Problem-Narzissmus“ (© Franz Schuh) den Vorteil hat, dass man sich selbst allein schon durch sein Urteil über all das Jämmerliche erhebt.


Dementsprechend zwiespältig waren die Reaktionen, als Helmut Qualtinger vor 50Jahren zum ersten Mal als „Herr Karl“ auf dem Bildschirm auftauchte. Zunächst war die Empörung enorm („Nestbeschmutzer!“), doch es dauerte nicht lange, und die Wiener hatten diesen Bühnenfiesling mit all seinem Charme und Schmäh des kleinen Mannes adoptiert – und seinen Darsteller gleich mit.

Der Regisseur Michael Kehlmann hat erzählt, wie Qualtinger in Beiseln immer wieder von fremden Betrunkenen angesprochen wurde, die mit ihm über die Zeiten plaudern wollten, in der Überzeugung, er sei einer der ihren. Der Suff war leider Teil seines Fluidums, hier erst wurde er zum verschwommenen „Quasi“. Ein Name wie ein Programm: Wer so heißt, tut niemandem mehr weh.

„Qualtinger war bisher der letzte Österreicher“, schreibt Franz Schuh, „der Österreich – dem Land, der Nation, dem Volk – ein Gesicht hatte geben können.“ Und was für ein Gesicht! Es war das Antlitz eines Mannes, der 1961, als gerade einmal 33-Jähriger, ohne jede Maske erschreckend glaubwürdig einen alternden Trinker verkörpern konnte. Es war aber auch das Gesicht eines Künstlers, der über Mittel verfügte, wie sie unter den heutigen Kabarettisten allenfalls noch Josef Hader beherrscht. Dieser treuherzige Dackelblick oder das irr-ekle Lächeln, wo einem längst das Lachen vergangen ist, all das ließ keinerlei rettenden Raum mehr zwischen dem Mimen und seiner Figur.

Angesichts dessen blieb den Österreichern gar nichts anderes übrig, als diesen Mann entweder zu teeren und zu federn oder ihn mit einer Umarmung zu ersticken.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.01.2012)

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