Erstkontakt

Wien ist anders, aber wehe, du bist anders als die Wiener! Lang hat es gedauert, bis ich einen Erstkontakt der besonderen Art erlebt habe.

Wenn mich in meinen ersten Jahren in Wien jemand gefragt hat, wie die Wiener so sind, dann war meine Standardantwort: Keine Ahnung, ich kenne keine. Auf der Uni hatte ich ausschließlich Leute aus den Bundesländern kennengelernt, und so fand ich mich schließlich damit ab, dass die Eingeborenen hier offenbar gern unter sich blieben.

Der Erstkontakt fand dann völlig überraschend im Reich der Philosophie satt. Wer diesem edlen Gewächs im Garten des Geistes einmal verfallen ist und auch nach der Uni nicht davon lassen möchte, der hat ein Problem. Denn wer leistet sich schon einen Betriebsphilosophen? Die Lösung fand sich schließlich in einer höchst verdienstvollen Einrichtung, der Wiener Volkshochschule.

In Rudolfsheim-Fünfhaus bot ich einen Einführungskurs in die Philosophie an, und von den Teilnehmern sind mir vier besonders im Gedächtnis geblieben: ein Banker mit Mascherl und Aktenkoffer, der es kaum erwarten konnte, bis endlich der Wiener Kreis „dran“ war, eine Hauptschullehrerin, ihres Zeichens glühende Marxistin, und eine Krankenschwester mit böhmischen Wurzeln sowie deren Kollege, die beide auf dem Steinhof arbeiteten und ausprobieren wollten, ob sich die Welt nicht auch mal von einer ganz anderen Perspektive betrachten ließ.

Das waren die ersten Wiener, die ich näher kennenlernte, und das Schöne war, dass sie sich, den großen Denkern und mir sieben Semester lang die Treue hielten. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit der lebendigen Neugier, mit der diese bunte Runde sich auf die Themen einließ. Gewiss, es gab auch Ausuferungen, etwa, als die Marxistin in einem Kurs über Ethik ihren Vater mitbrachte, um mit seiner Hilfe den Banker davon zu überzeugen, dass nur das Ende des Finanzfaschismus die Welt retten könne. Doch zumeist verliefen die Debatten mit einem Engagement und einer Offenheit für das Argument des anderen, wie ich sie selbst in Uni-Seminaren selten erlebt hatte.

Im vierten Semester stieß dann ein neuer Teilnehmer dazu, ein Mann jenseits der achtzig, der schwerhörig war und mich bat, sich in der Tischrunde so setzen zu dürfen, dass er etwas mitbekäme. Klar doch. So saß er schließlich mir direkt gegenüber, mit der Hand am Ohr und mit dem Rücken zu den anderen. Descartes stand auf dem Programm, und wir kamen zu der Frage, ob es eine erste, unumstößliche Wahrheit gebe. Descartes' Antwort ist bekanntlich die Geburtsstunde der neuzeitlichen Philosophie: Ich selbst als denkendes Wesen bin dieses Fundament. Doch der alte Wiener hatte eine andere Antwort, seine eigene Version von Subjektivität: „Des waaß i. Oid muss ma werdn, gsund muss ma bleibn, und a Gaudi muss ma hobn!“ ?

dietmar.krug@diepresse.com diepresse.com/diesedeutschen

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