Der Mann, der 68 Jahre ohne Idee regierte

Oder: Wie ich im "Club 2" beim Requiem nicht mitsang und in die Rolle des Pietätlosen geriet.

Unlängst habe ich eine Biografie über Kaiser Franz Joseph gelesen. Warum der immer noch so beliebt ist, ist mir ja ein Rätsel. Erwin Ringels Verdikt, in diesem Kaiser habe sich „die ganze Selbstschädigungs- und Vernichtungstendenz“ seines Landes ausgetobt, mag überzogen sein. Aber Ringels Einschätzung, da habe ein Mann 68 Jahre lang regiert und nicht eine einzige konstruktive Idee gehabt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

Franz Joseph kommt mir vor wie ein Hausherr, dem aber auch jeder Versuch missglückt, sein uraltes, baufälliges Gebäude zu renovieren. Auf den Thron kam er im Revolutionsjahr 1848, als das Haus schon so bedenklich wackelte, dass Familie Habsburg bereits die Koffer gepackt hatte. Danach hieß es nur noch: Retten, was zu retten ist!

Und alles ging schief. Zuerst büßte der Kaiser die Vorherrschaft in Italien ein, dann kam ihm die erste Geige im Deutschen Bund abhanden. Doch er klammerte sich an seine Macht, wehrte sich verbissen und vergeblich gegen den Verfall seines Reiches. Sein Ausspruch „Mir bleibt auch nichts erspart“ stimmt indes nicht ganz: Zusammengekracht ist das Haus Habsburg erst zwei Jahre nach seinem Tod.


An diese Biografie musste ich denken, als ich vergangene Woche beim „Club 2“ eingeladen war. Das Thema hieß: „Gibt es ihn noch, den echten Wiener?“ Die Gesprächsbeiträge waren entweder Liebeserklärungen an das Wienerische oder Klagen über dessen Aussterben. Ich bin dann bald in die Rolle des Pietätlosen geraten, da ich nicht ins Requiem einstimmen wollte und als Deutscher für eine Sprache stehe, die derzeit das Wienerische zu überlagern scheint. (Obwohl: Ist es wirklich „unser“ Deutsch, das den Wiener Dialekt verdrängt – und nicht vielmehr ein überregionales Schriftdeutsch, das es als ungeliebte Option auch in Österreich immer schon gab?)

Dass hüben wie drüben die Dialekte auf dem Rückmarsch sind, hat mit einem tiefgreifenden Sprachwandel zu tun. Im SMS- und Facebook-Zeitalter hat die Schriftsprache auch hierzulande einen völlig anderen Stellenwert bekommen. Aber Wandel steht in Österreich offenbar nur für Verlust und Untergang. Dabei sind doch gerade die Wiener so stolz auf die einstige Offenheit ihrer Sprache, etwa für slawische Wörter. Als solche Wendungen aufgekommen sind, haben die Leute auch nicht gesagt: „Wie hübsch, wir reden ja wie ein Ziegelböhm!“

Apokalyptisch unbegabt, wie ich bin, wage ich eine Prognose: Das Wienerische wird auch den jetzigen Wandel überstehen. Es wird nicht mehr das Idiom des alten Wienerlieds sein, und es wird, wie immer, die Spuren der Migranten tragen, der türkischen ebenso wie der deutschen.

Na und? Es wird zumindest ein lebendiges Wienerisch sein: die Sprache, die man in Wien nun einmal spricht.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.06.2012)

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