Hinaus mit all den Literaten und Popstars, die verdächtig sind!

Am Weltfrauentag machen wir in unseren Archiven traditionell einen Frühjahrsputz. Diesmal fiel er radikal aus. Bericht von einer Säuberung.

Passionierte Leserinnen und Hörer werden das verstehen: Wohin mit all diesen Büchern, mit all den CDs, die mindestens zweireihig aus den Regalen quellen? Wer trennt sich schon freiwillig von seinen Schätzen? Bei uns Biblio- und Audiophilen in den unterirdischen Archiven des Gegengifts hat sich eingebürgert, dass dieser schmerzhafte Frühjahrsputz auf den Weltfrauentag fällt.

Tragische Szenen waren am Freitag nach eins zu beobachten, als wir heulend vertrauten Texten nachwinkten, die kistenweise als Sperrmüll abtransportiert wurden. Eine ganze Palette mit Romanen von Rosamunde Pilcher war diesmal dabei, das wirklich nur Fragmentarische von Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, zerkratzte Singles aus der Glitzer-Phase des Rock und dann und wann ein von Wolfgang Schneiderhan übertrieben süßlich gespieltes Violinkonzert.

In diesem Jahr, das stärker gar als das selige 2018 von #Metoo geprägt ist, fiel unsere Säuberungswelle besonders konsequent aus. Persönlich habe ich mich von den Rolling Stones getrennt. Nun, nicht endgültig, sondern nur von anstößigen Nummern wie „Under My Thumb“ und „Yesterday's Papers“. Ausschlaggebend dafür war, dass ich soeben erfahren habe, 1965 hätten Bill Wyman, Mick Jagger und Brian Jones in London an einer Tankstelle aus Protest öffentlich uriniert. Sie kamen für ihre Schandtat vor Gericht – 15 Guineas Bußgeld.

Leute, so geht das nicht! Und heute gelten strengere moralische Maßstäbe. Nicht einmal mehr Dinieren in der U-Bahn ist erlaubt. Also werden wir künftig in unserer Bibliothek wie ein rächender Innenminister über Verbleib oder Ausreise von Gedichten und sogar von Sachbüchern befinden müssen. Als Erstes flog diesmal das große Sacher-Kochbuch von der Oma raus. Zu viele Kalorien, und all die gequälten Tiere. Dann war die Lyrik dran. Tut mir leid, Ezra Pound, Bertolt Brecht und Ingeborg Bachmann! Wir und eure fantastische Literatur gehen ab jetzt getrennte Wege. Das gebietet die politische Korrektheit. Eure Texte sind zudem nicht einmal gegendert.

Nach diesen echten Verlusten gingen wir zum angenehmeren Teil über: Weg mit all den Langweilern! Wer will schon einen Klopstock horten oder gar einen Milton? Proust war uns immer schon zu oberklassig ennuyiert und Sir Charles Popper zu abgedroschen. Die haben in unserer geschlossenen Gesellschaft nichts verloren. Den größten Kahlschlag aber gab es in der Welt des Pop. Ehrlich, wer will heute noch absurde Kunstwesen wie Michael Jackson oder Falco beherbergen? Wir schließen uns dem Mainstream an und verbannen sie aus unseren Sammlungen. „Bad“ ist von nun an ganz schlecht, und „Jeanny“ bleibt perverse Zumutung. Nächstes Jahr kommen die bösen Aktionisten dran.

E-Mails an:norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2019)

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