Erinnerung an John Dickie

Nur ein Haus, in dem ein Tenor wie er einfach „da“ ist, ist ein Weltklassehaus.

In viel zu jungen Jahren hat uns John Dickie verlassen. Es ist nötig, noch einmal ausführlich an ihn zu erinnern, einen Tenor, der wie kaum einer in unseren Tagen einen Ensemblegeist hochzuhalten half, den viele schon für rettungslos verloren halten. In Wahrheit war John Dickie ein Sänger, der sich für eine Sache engagierte, die kluge Köpfe mittlerweile längst wieder für zukunftsträchtig halten, für eine Chance, einen immer schwerer aufrechtzuerhaltenden Opernbetrieb ins neue Jahrtausend hinüberzuretten.

Das lag zum einen daran, dass Dickie ein Traditionsbewahrer war. Sein Lebenslauf legt das nahe, stammte er doch aus musikalischem Haus. Sein Vater, der unvergessene Murray Dickie, war eine der Stützen des legendären Wiener Ensembles gewesen, der mit prägnanter Stimme und gesundem Theatergeist unzählige Repertoireaufführungen belebte. Allein den Don Basilio im „Figaro“ hat er fast 200-mal verkörpert. Doch vermochte er in jungen Jahren auch als lyrischer Tenor zu punkten, sang Hauptpartien in „Zar und Zimmermann“ wie im „Barbier von Sevilla“ – und bis zuletzt bei bestem Humor den Pedrillo in der „Entführung aus dem Serail“.

Der Sohn vermochte in diese Fußstapfen zu steigen – mehr noch, er war, als Eberhard Waechter daran ging, den alten Ensemblegedanken neu zu beleben, in der Volksoper unverzichtbar, als man die Mozart'schen Da-Ponte-Opern auf Deutsch einstudierte. Da gab John Dickie den Ottavio und den Ferrando und sang die A-Dur-Arie dem deutschen Text zum Trotz mit jener Italianità, die der Musik dieses Wiener Klassikers immer erst ihren letzten, den rechten Schliff verleiht.

Man hat dem Tenor in seinem Stammhaus dann übel mitgespielt, als Eberhard Waechter, der Mentor, der ihn über alles geschätzt hat, nicht mehr da war. Ioan Holender hat reagiert, als man im Haus am Gürtel auf Dickies Dienste verzichten zu können glaubte, weil man von einem gesunden Ensemble nichts mehr hielt. Der Direktor verleibte Dickie dem Stamm der Staatsoper ein – und hatte mit einem Mal einen Mann parat, der wichtige Mozart- oder Rossini-Rollen singen konnte, vor allem aber immer da war, wenn es galt, die künstlerische Schlagkraft der Wiener Oper unter Beweis zu stellen. Die ermisst der Kenner nicht nur daran, wer jeweils Tristan und Isolde singt, sondern in Wahrheit daran, wie diese Oper beginnt: Wenn sich nach dem Vorspiel der Vorhang hebt, ertönt ohne jede Begleitung die Stimme des jungen Seemanns. Und wenn Dickie sie sang, dann war zu hören, welchen Stellenwert Oper hierzulande immer noch haben kann.

Das Nämliche galt für den Anfang der Strauss'schen „Salome“, in der mit dem „Wie schön ist die Prinzessin Salome heute Nacht“ schon Entscheidendes über die Qualität eines Abends zu sagen ist. Ein Haus, das diese knappen, aber wichtigen Schlüsselpartien, das größere Rollen wie den Monostatos in der „Zauberflöte“, den Elemer in „Arabella“ oder den Steuermann im „Fliegenden Holländer“ auf solchem Niveau besetzen kann, weil ein Sänger wie Dickie einer war, der ganz einfach zur Verfügung steht, weil er da ist, ist ein gutes, ein Weltklassehaus. Dessen sollte man gedenken, wenn man an John Dickie erinnert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.01.2010)

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